Ob man vom Ende einer „Hängepartie“ sprechen kann, wenn man an den 1. April 1924 erinnert? Auf diesen Gedanken kann man kommen, wenn man erstaunt feststellt, dass die neue, von der verfassunggebenden Kirchenversammlung für die Evangelische Landeskirche in Württemberg erarbeitete Kirchenverfassung schon das Datum des 24. Juni 1920 trägt – dann aber fast vier Jahre ins Land gingen, bis sie tatsächlich in Kraft treten konnte. Seitdem entfaltet sie bis zur Gegenwart ihre Wirkung: Sie beschreibt, wie die kirchenleitenden Aufgaben an der Spitze der Landeskirche durch vier Größen wahrgenommen werden, zwischen denen ein enges Beziehungsgeflecht hergestellt ist: Landesbischof, Landessynode, Landeskirchenausschuss und Oberkirchenrat.
Wie kam es zu der großen zeitlichen Verzögerung von 1920 bis 1924? Sie hatte ihre Ursache nicht darin, dass es in der Landeskirche zu Auseinandersetzungen über die beschlossene neue Kirchenverfassung gekommen wäre. Sondern es trat auf staatlicher Seite zutage, dass es zwar ein Leichtes gewesen war, in der Weimarer Reichsverfassung 1919 die Tatsache festzuschreiben „Es gibt keine Staatskirche“. Im Detail aber auszuformulieren, wie die bisher bestehenden rechtlichen Verflechtungen zwischen Ländern und Landeskirchen konkret weiter zu entflechten seien, erwies sich als Herausforderung. Sie zu lösen, fiel in die Zuständigkeit der Länder. Da sich die Staat-Kirche-Beziehungen seit der Reformation und nach den tiefgreifenden Umbrüchen in der napoleonischen Zeit aber in den Ländern eigenständig entwickelt hatten, stellte sich die rechtliche Situation nach dem Ende der Monarchie 1918 überall anders dar.
Auf dem Territorium des „Volksstaates Württemberg“ gab es (anders als etwa in Preußen) nicht mehrere, sondern nur eine evangelische Landeskirche. Nötig war aber auch hier eine staatlich gesetzlich geregelte Entflechtung, zu der man sich wegen komplizierter auch finanzieller Fragen und Folgen erst nach viel Zeit beanspruchenden Verhandlungen durchringen konnte. In dem am 3. März 1924 beschlossenen „Gesetz über die Kirchen“ wurde dann u.a. festgelegt, auf welche Aufsichtsfunktionen über kirchliche Entscheidungen man für die Zukunft trotz der „Trennung“ staatlicherseits doch nicht völlig verzichten wollte. Erst nach Setzung dieses Rahmens konnte seitens der Landeskirche ihre schon längst fertige neue Kirchenverfassung in Kraft gesetzt werden – zum 1. April 1924. Deren jetzt 100-jährige interessante Geschichte näher zu beschreiben, wird in diesem Jubiläumsjahr noch vom Verein für Württembergische Kirchengeschichte bei einer Tagung am 11. Oktober 2024 unternommen.
Der 1. April 1924 markiert damit das Datum, von dem an der rechtliche Rahmen zur Anwendung kam, den man sich in der württembergischen Landeskirche nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 1918 nun ganz eigenständig für die Zukunft gesetzt hatte. Dass die Struktur der damals grundgelegten Rechtsordnung für die Leitung der Landeskirche sich im Alltag bewährt hat, stellt das nicht ihr 100-Jahr-Jubiläum unter Beweis?
Prof. Dr. Jürgen Kampmann