Die Nachwirkungen des 30-jährigen Krieges waren in der lutherischen Kirche noch das ganze 17. Jahrhundert über spürbar. Als erste Reformmaßnahmen setzte die Obrigkeit vor allem auf die Einhaltung der kirchlichen Ordnung wie die Sonntagsheiligung, den Gottesdienstbesuch oder die Teilnahme am Abendmahl. Dies diente zwar der Sozialdisziplinierung, formte aber die Menschen zu angepassten „Scheinchristen“, denen Seelsorge, Frömmigkeit und die Umsetzung des Glaubens im Alltag fehlten. Zahlreiche Theologen beklagten diese Krise der Frömmigkeit und arbeiteten Reformvorschläge aus, wie der Rostocker Pfarrer Theophil Großgebauer mit seiner „Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion“.
Darüber hinaus überlegten einzelne engagierte Christen, wie sie ihren Glauben intensivieren könnten. So trafen sich im Sommer 1670 fünf Freunde bei dem Frankfurter Pfarrer Philipp Jakob Spener, um gemeinsam Andachtsbücher zu lesen und darüber zu diskutieren. Immer mehr Gemeindemitglieder besuchten diese „Collegia pietatis“ und ermutigten Spener damit, sie zu einer Säule seines Reformprogramms zu machen. Seine Ideen, die er 1675 unter dem Titel „Pia desideria“ veröffentlichte, haben den Pietismus innerhalb der lutherischen Kirche ausgelöst und sind bis heute in Hauskreisen oder der persönlichen Bibellese wirksam.
„Ich habe zu Papier gebracht, was bisher meinen Sinn besorgt gemacht hat und was, wie ich glaube, der Besserung der Kirchen dienen wird“.
Am Beginn der Schrift analysiert Spener schonungslos den religiösen Zustand der Gesellschaft und unterscheidet dabei die drei Stände, „Obrigkeit“, „Priesterstand“ und die (christlichen) Gemeinden. Es lohne sich gegen diese Missstände anzugehen - so ist Spener überzeugt - da der Kirche noch „bessere Zeiten“ bevorstehen („Hoffnung besserer Zeiten“). Dann folgen seine sechs Reformvorschläge. Mit den ersten Ideen wendet er sich an alle Christen. Entweder individuell oder angeleitet durch einen Pfarrer in Gruppen („Collegia pietatis“) soll jeder Christ alle Schriften der Bibel lesen. Außerdem sollen alle Gläubige das „geistliche Priestertum“ übernehmen und sich um die Seelsorge des Nächsten kümmern. Damit greift er ein Anliegen Martin Luthers auf, das in Vergessenheit geraten war. Auch der Alltag soll durch den Glauben geprägt sein und sich im christlichen Handeln oder in der Einschränkung konfessioneller Streitgespräche zeigen. Statt über Bekenntnisunterschiede zu diskutieren, sollen Andersgläubige durch den christlichen Lebenswandel überzeugt werden. Dann wendet er sich an Theologen und Studenten und fordert die Reform des Theologiestudiums. Dabei soll nicht mehr die Wissensvermittlung im Mittelpunkt stehen, sondern die Erziehung der Studenten zu vorbildhaften Christen. Der letzte Vorschlag betrifft die Predigten, deren Inhalt und Stil an die Gemeinde angepasst und zur Erbauung der Zuhörer gehalten werden sollen.
Mit seiner Schrift regte Spener eine intensive Diskussion zwischen Theologen an, insbesondere die „Hoffnung besserer Zeiten“ wurde intensiv diskutiert. Nachdem sich in Frankfurt einige Teilnehmer der „Collegia pietatis“ von der Kirche entfernten, brachte ihn dies in Bedrängnis. So hat Spener selbst nach seinem Weggang aus Frankfurt keine „Collegia pietatis“ mehr gegründet. Dennoch sind es gerade diese beiden Ideen, die die „Pia desideria“ zu einem Gründungsdokument des Pietismus gemacht und die pietistische Frömmigkeit nachhaltig geprägt haben.
Dr. Konstanze Grutschnig