Ein sicherer Raum, in dem Menschen sich öffnen können: Das ist das Ziel des Gottesdienstes für Menschen nach Gewalterfahrungen. Im Oktober 2024 fand ein solcher Gottesdienst in der Stuttgarter Leonhardskirche statt. Kirchenrätin Dr. Evelina Volkmann (Leiterin Referat Theologie, Kirche und Gesellschaft im Oberkirchenrat der Landeskirche) erklärt, warum es ein solches Angebot gibt. Die Stuttgarter Prälatin Gabriele Arnold sprach in ihrem Grußwort im Gottesdienst vom „Sprechen gegen das Schweigen“.
- In einer lockeren Reihe stellen wir hier künftig besondere Gottesdienste vor: Sie laden Menschen ein, die sich in einer besonderen - schweren oder auch freudigen - Lebenssituation befinden oder sie nutzen außergewöhnliche Elemente zur Gestaltung. Vom Pop-up-Segen bis zum Tango-Gottesdienst … Hier: Gottesdienst für Menschen nach Gewalterfahrungen -
Was unterscheidet den Gottesdienst nach Gewalterfahrungen von anderen Gottesdiensten?
Kirchenrätin Dr. Evelina Volkmann:
Zu diesem Gottesdienst werden gezielt Menschen eingeladen, die Betroffene von Gewalt geworden sind. In diesem Gottesdienst stehen sie mit ihren Erfahrungen im Mittelpunkt und sind nicht irgendwie nur „mitgemeint“, wie in gewöhnlichen Gemeindegottesdiensten. Es handelt sich also um einen Zielgruppengottesdienst, der zudem ganz bewusst übergemeindlich angeboten wird und damit das kirchengemeindliche Angebot ergänzt.
An wen richtet er sich?
Kirchenrätin Dr. Evelina Volkmann:
Dieser Gottesdienst richtet sich an Menschen, die Gewalt erlebt haben, z.B. sexualisierte Gewalt, Gewalt im Kontext von Prostitution, von Fluchterfahrungen, geistliche, körperliche, häusliche Gewalt oder andere Gewalt. Außerdem haben wir gezielt Menschen eingeladen, die sich solidarisch zeigen mit Menschen nach Gewalterfahrungen, z.B. indem sie sie freundschaftlich, vielleicht auch seelsorglich begleiten oder in ihrem Kontext für Erfahrungen Gewaltbetroffener sensibilisieren. Darüber hinaus sind uns alle willkommen, die sich für diesen Gottesdienst mit seinem schweren Thema interessieren. Dadurch, dass diese verschiedenen Gruppen eingeladen sind, muss sich niemand, der oder die kommt, als von Gewalt Betroffene oder Betroffener outen. Das ist uns wichtig. Worauf wir bei allen, die unserer Einladung folgen und mitfeiern, vertrauen, ist, dass der Glaube an Gott für sie eine Ressource ist oder (wieder) werden kann. Auf dieser Ebene sprechen wir die Menschen an.
Welche Intention steckt hinter diesem Angebot?
Kirchenrätin Dr. Evelina Volkmann:
Auslöser für diesen Gottesdienst ist die bittere Erkenntnis: Die sexualisierte Gewalt und der Missbrauch, den Menschen in unserer Kirche erlitten haben, ist beschämend. Dieses unsägliche Unrecht darf nicht länger verschwiegen werden. Wir verurteilen diese Gewalt. Wir wollen nicht, dass sich so etwas wieder ereignet. Aber es hat sich ereignet.
Das führt u.a. zu der Frage: Wie kann unsere Landeskirche Betroffenen in ihrem Glauben Heimat bieten? Gemeint sind alle Betroffenen, auch diejenigen, die Gewalt in anderen als kirchlichen Kontexten erfahren haben. Hier rückt die Bedeutung der Gottesdienste in den Blick. Es stellt sich generell und besonders nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie die Frage, wie Gottesdienste so gestaltet werden können, dass sie den Fragen und Anliegen Betroffener, die oft noch lange nach dem Geschehen davon geprägt sind, Raum bieten. Weil dies genauso auch für Menschen gilt, die andere Formen von Gewalt erlebt haben, haben wir diesen Gottesdienst bewusst auch für sie geöffnet.
„Auf Gott hoffen“ – so war dieser erste Gottesdienst dieser Art im Oktober 2024 überschrieben. Wir hoffen auf Gott. Von Gott erhoffen wir Hilfe. Darum gibt es in diesem Gottesdienst viel Raum für die Suche nach Vertrauen, nach Glauben, nach Geborgenheit in Gott. Wir wissen nicht, ob sich das für die Einzelnen dann auch tatsächlich so ereignet. Aber wir hoffen darauf, dass solch ein Gottesdienst kräftigt und stärkt, indem Freude und Schmerz miteinander geteilt werden. Deshalb enthält der Gottesdienst verschiedene Elemente wie Musik, Psalmenmeditation, Stationen, Gebet und Singen, die natürlich unterschiedlich auf die Mitfeiernden wirken. Im Anschluss an den Gottesdienst ist Zeit für Gespräche.
Bei der Gestaltung des Gottesdienstes am 11. Oktober wirkten mit:
Für die kirchenleitende Sicht auf das Thema sexualisierte Gewalt hat am 11. Oktober die Stuttgarter Prälatin Gabriele Arnold gesprochen. Denn unsere Landeskirche ist sich ihrer Schuld und Verantwortung bewusst und setzt sich mit dem Fakt, dass sie als Kirche selbst Täterin ist und in ihren Reihen Täter und Täterinnen sind, auseinander.
Soll es künftig öfter solche Gottesdienste geben?
Kirchenrätin Dr. Evelina Volkmann:
Wahrscheinlich werden auch künftig wenigstens ab und zu übergemeindliche Gottesdienste für Menschen nach Gewalterfahrungen angeboten.
Sprechen gegen das Schweigen. Miteinander sprechen, mit Gott sprechen, aussprechen, was eigentlich unaussprechbar ist, Worte finden für das, was man nicht einmal zu denken wagt. Um das Schreckliche aussprechen zu können, leihen wir uns Worte in den Psalmen. Sie bieten Sprachhilfe für das größte Glück, den tiefsten Schmerz, sie geben Worte für Zorn und Ohnmacht, ja Worte für Gewalterfahrungen. In Psalm 55 lesen wir:
Gott, höre mein Gebet und verbirg dich nicht vor meinem Flehen. Merke auf mich und erhöre mich, wie ich so ruhelos klage und heule, dass der Feind so schreit und der Frevler mich bedrängt; denn sie wollen Unheil über mich bringen und sind mir heftig gram. Mein Herz ängstet sich in meinem Leibe, und Todesfurcht ist auf mich gefallen. Furcht und Zittern ist über mich gekommen, und Grauen hat mich überfallen. Ich sprach: O hätte ich Flügel wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände! Siehe, so wollte ich in die Ferne fliehen und in der Wüste bleiben.
Psalm 55 können wir lesen als Klagelied einer Frau, die vergewaltigt wurde. Es sind Worte, die nicht wegschauen und die auch nicht zur Vergebung aufrufen.
Die Kirche hat zu lange weggeschaut, nicht zugehört, Zorn nicht zugelassen und zu schnell Vergebung eingefordert.
Wir wissen heute: Das war falsch. Mit einem Blick in die Psalmen hätten wir es besser wissen können. Es gibt Dinge, die kann man nicht vergessen und nicht vergeben und auch nicht wiedergutmachen. Manchmal wird die Seele nicht wieder heil. Und trotzdem beten wir: Heile du mich, Herr, so werde ich heil, hilf du mir, so ist mir geholfen.
In dieser Spannung stehen wir als Christinnen und Christen und als Kirche.
Als Kirche wollen wir sicherer Raum sein und Menschen schützen. Deswegen gibt es Schulungen und Schutzkonzepte, die über die ganze Landeskirche, alle Gemeinden und alle Einrichtungen ausgerollt werden. Und wir wissen: es kann trotz aller Prävention immer wieder etwas passieren.
Und trotzdem bleibt vieles, was wir tun können. Zuhören, reden, schreien, um Vergebung bitten, dass wir zu lange weggeschaut haben, Leid anerkennen und Anerkennungsleistungen auszahlen. Als Kirchenleitung beschäftigen wir uns auf allen Ebenen mit den Fragen sexualisierter Gewalt. Wir arbeiten juristisch, theologisch, präventiv und finanziell, um den Opfern sexualisierter Gewalt besser gerecht zu werden. Und dafür brauchen wir Sie Alle. Bitte bleiben Sie unbequem. Wir versuchen, es besser zu machen.
Kirchengemeinden sind herzlich eingeladen, Texte wie diesen von www.elk-wue.de in ihren eigenen Publikationen zu verwenden, zum Beispiel in Gemeindebriefen. Sollten Sie dabei auch die zugehörigen Bilder nutzen wollen, bitten wir Sie, per Mail an kontakt