Wie alle Pfarrer und Pfarrerinnen begleitet Julie-Sophie Daumiller (34) aus Bietigheim-Bissingen Menschen, die von einem geliebten Familienmitglied oder Freund Abschied nehmen. Wie gelingt ihr das? Wie geht sie mit dem Schmerz der Angehörigen um? Und warum hält sie einen bewussteren Umgang mit Tod und Trauer für wichtig?
Ein Friedhof ist kein menschenleerer Ort. Der Haupteingang des Friedhofs St. Peter in Bietigheim-Bissingen an einem Montagvormittag gegen 11 Uhr: Vor einer Gärtnerei stehen auf Metallregalen Blumenstöcke und Grünpflanzen. Eine ältere Frau mit Tasche geht durch das Friedhofstor. Zwei E-Bike-Fahrer stellen ihre Räder auf dem Parkplatz ab, der für den Bestatter reserviert ist. Wenig später fährt jemand mit dem Fahrrad auf den Friedhof.
Auch Julie-Sophie Daumiller, Pfarrerin an der Friedenskirche Bietigheim-Bissingen, kommt für Trauerfeiern immer mit dem Rad hierher. Jetzt fährt die 34-Jährige auf einem E-Bike durch das Eingangstor, stellt es ab und begrüßt Matthias Baron. Er ist hier Friedhofsaufseher und Bestattungsordner. Die Zusammenarbeit mit den Friedhofsmitarbeitern sei eng, erklärt sie.
Zwei Trauerfeiern hat die 34-Jährige letzte Woche gehalten. Wenn bei ihr die Nummer des Bestatters angezeigt wird, wird ihr beruflicher Alltag durcheinandergewirbelt. Etwa so: „Ich bin in meinem Büro, auf dem Sprung zu einem Termin und habe schon alles vorbereitet.“ Plötzlich erhält sie einen Anruf, dass ein Gemeindeglied verstorben ist. „Ich mache die Tür zu und atme tief durch.“ Sie telefoniert mit dem Bestatter und den Angehörigen und vereinbart mit diesen einen Termin für ein Trauergespräch.
Die Tür zu der mittelalterlichen Friedhofskirche steht offen. „Ich feiere hier sehr gerne Trauerfeiern“, sagt Julie-Sophie Daumiller und geht nach vorne in Richtung Kanzel. „Hier sitzen die Angehörigen“, erklärt sie und zeigt auf die Stuhlreihen links im vorderen Teil der Kirche. „Dort steht der Sarg oder auf einem Podest die Urne.“ Weiter hinten sitzen Nachbarn, Freunde und Bekannte.
Fällt es ihr schwer, Trauerfeiern durchzuführen? Wie vermeidet sie, angesichts der Trauer und der Tränen nicht auch zu weinen?
„Sobald ich den Friedhof betrete, bin ich in meiner Rolle“, erklärt sie. Sich auf den steilen Weg hinaus zum Friedhof zu machen, sei für sie wie eine Vorbereitung auf die Trauerfeier. Sie schließt ihr Fahrradschloss ab und spricht mit den Sargträgern, der Organistin oder den Angehörigen.
Häufig erkennen die Gäste sie erst, wenn sie im Talar aus der Sakristei der Friedhofskirche heraustrete, weil sie nicht mit einer jungen Frau als Pfarrerin rechnen würden, erzählt sie. Das Gewand hilft ihr auch, sich auf das einzustellen, das kommt. „Dann bin ich ganz in meiner Rolle, auch als Liturgin.“ Am Sarg spricht sie ein stilles Gebet, um den Verstorbenen zu würdigen, oder bittet um Kraft für die Trauerfeier.
Ihre Aufgabe ist es, den Menschen Halt zu geben. „Ich versuche, die Menschen in ihrer Lage zu unterstützen“, sagt sie. Sie möchte ein „Geländer“ für die Angehörigen sein, so hat sie es im Vikariatskurs für angehende Pfarrerinnen und Pfarrer gelernt. Sie führe die Trauernden durch die Abschiedszeremonie und mache deutlich: Sie hat alles vorbereitet, die Familien können in Ruhe Abschied nehmen. „Zu wissen, ich tue den Angehörigen etwas Gutes, motiviert mich.“ Empathie ist ihr wichtig. Und wenn ihr doch die Tränen kommen, konzentriert sie sich auf einen Punkt hinten in der Kirche.
30 Minuten darf die Trauerfeier aus organisatorischen Gründen nur dauern. Danach können sich die Angehörigen im Falle einer Feuerbestattung vor der Aufbahrungshalle vom Verstorbenen verabschieden. „Hier an der Linde“, zeigt Julie-Sophie Daumiller. Oder alle folgen der Pfarrerin in einem Trauerzug zum Grab. „Laufen tut gut“, sagt Julie-Sophie Daumiller. Für ältere Menschen sei der Weg jedoch beschwerlich. Der Sarg wird gerollt, die Urne – sie wiegt mehrere Kilo – trägt der Bestatter.
Manchmal macht die Pfarrerin vor der Trauerfeier noch eine Aussegnung, erzählt sie: „Ich lege meine Hand auf den Verstorbenen“, erklärt sie. Sie berührt ihn, häufig dessen Hände, und zeichnet ihm ein Kreuz auf die Stirn. Dann liest sie einen Bibelvers, ein Gebet und spricht mit den Angehörigen ein Vaterunser. „Das erste Mal war es furchtbar seltsam“, sagt sie. Als Vikarin wurde sie ans Sterbebett eines alten Mannes gerufen. „Die Hände waren schon kühler.“ Am nächsten Tag starb er. Seine Hände waren kalt, als die Pfarrerin ihn besuchte. Doch er habe sehr ähnlich ausgesehen, er war friedlich eingeschlafen. „Wenn ich fertig bin, nicke ich den Angehörigen zu.“ Dann können auch sie den Verstorbenen berühren. „Aussegnungen werden immer weniger, viele Menschen wollen das nicht“, erklärt Julie-Sophie Daumiller.
Vögel zwitschern, ein Mitarbeiter des Friedhofs mäht den Rasen. Eine Gartenbaufirma baut Urnengräber auf einer Rasenfläche, dazwischen stehen Bänke: ein „Baum-Urnenfeld“. „Ein Friedhof ist ein friedlicher Ort“, sagt Julie-Sophie Daumiller.
Und doch kenne sie viele junge Menschen, die sich scheuen würden, auf Friedhöfe zu gehen. „Wenn ich mit Freunden über Tod und Trauerfeiern rede, stelle ich fest, dass er für sie sehr weit weg ist“, erzählt sie. Sie würden praktische Fragen stellen und wenig darüber wissen.
Sie sagt: „Für mich gehört der Tod zum Leben dazu. Doch viele Menschen sind sehr überrascht, frustriert, überfordert und wissen nicht, was sie tun sollen.“ Nicht nur junge Menschen tun sich mit Trauer und Tod schwer. Im Trauergespräch erzählen manche sehr viel, andere gar nichts. Manche Menschen würden starke Forderungen stellen, wenn die Pfarrerin mit ihnen eine Trauerfeier vorbereiten wolle, erzählt sie. Wenn die Pfarrerin einen Termin nicht möglich machen könne, würden sie ungehalten. Oder sie werde in Familienstreitigkeiten hineingezogen. „Wenn ich sie später kennenlerne, sind sie ganz anders.“ Sie lerne sie in einer Extremsituation kennen.
Zu den Beerdigungen kommen vor allem Erwachsene. Viele Eltern wollen ihre Kindergarten- oder Schulkinder von dem Tod der Großeltern fernhalten. „Ich finde das schade“, sagt Julie-Sophie Daumiller. Kinder verstünden häufig nicht, wo sich etwa ihre Oma befinde, wenn sie nicht zur Beerdigung mitkommen dürften. Sie hätten ein Recht darauf mitzubekommen, wo diese liege.
Ein Trauerfall in der vergangenen Woche. „Bei der Trauerfeier habe ich gesehen, dass die Eltern ihre Kinder zu Hause gelassen haben.“ Die Kinder bekämen dann nicht die Möglichkeit, sich zu verabschieden.
„Ein Friedhof ist ein Ort, an dem die Trauer sein darf“, sagt Julie-Sophie Daumiller. Viele Menschen wollten Schmerz und Trauer nicht zulassen. „Wir haben immer das Gefühl, wir müssen funktionieren.“ Doch wenn man bewusst damit umgehe, habe man häufig kein großes Problem damit. „Es gibt immer Abschiede im Leben, auch wenn ich aus dem Haus gehe, verabschiede ich mich“, sagt sie. Trauer müsse stärker zugelassen werden.
Viele ältere Menschen gehen bisher noch selbstverständlich zu Beerdigungen. Es sei für sie ein einschneidendes Erlebnis, das sie begleiten wollten, sagt die Pfarrerin. „Ich weiß nicht, ob das auch noch bei unserer Generation so sein wird.“ Sie vermutet auch, dass es ein Stadt-Land-Gefälle gibt. Auf dem Land spiele der Tod womöglich noch eine größere Rolle.
„Als ich mit einem Mann ein Trauergespräch ausmachen wollte, dessen Vater gestorben war, und er gesagt hat, er könne nicht, weil er zur Arbeit müsse, hat mich das irritiert“, sagt sie. Tod werde häufig als nachrangig behandelt, müsse hinter anderem zurückstehen.
Am Ende einer Trauerfeier versammelt sich die Trauergemeinde meist gemeinsam am offenen Grab. „Ich bin die ganze Zeit dabei und bleibe bis zum Schluss.“ Trauernde sollten nicht bei der Trauer stehenbleiben, wünscht Julie-Sophie Daumiller sich. „Mir ist es wichtig, dass ich den Trauernden unsere christliche Botschaft zusprechen kann, dass es nach dem Tod weitergeht und dass es Hoffnung gibt“, sagt sie. Julie-Sophie Daumiller spricht am Grab das „Auferstehungswort“ und segnet alle, die gekommen sind. Ihre Traueransprache gibt sie in einem vorbereiteten Umschlag den Familien mit, erkundigt sich bei diesen, wie die Trauerfeier für sie war und bietet ihnen an, dass sie sich auch zukünftig an sie wenden können. Zum Ewigkeitssonntag werden die Familien in die Kirche eingeladen.
Für Pfarrerin Julie-Sophie Daumiller ist der Friedhof eine „Außenstelle“. Aber: „In jedem Grabstein steckt eine Lebensgeschichte.“
Sie erinnert sich: „Ich habe einmal in kurzer Zeit drei Personen aus einer Familie in der Nähe bestattet, die Eltern in hohem Alter und deren erwachsenes Kind, das an einer Krankheit gestorben war.“ Der Gedanke, dass sie auf dem Friedhof himmlischen Frieden erleben würden, gebe ihr nicht nur Kraft für ihre Arbeit. „Hier dürfen die Verstorbenen lange liegen“, sagt sie. Viele Menschen hätten vor ihrem Tod gelitten. All das Leiden, die Umzüge, die Zeit im Altenheim oder Aufenthalte im Krankenhaus seien an diesem Ort vorbei.
Marie-Luise Schächtele