Markus Maichle ist evangelischer Bestatter in einem Familienbetrieb in Geislingen an der Steige. Im Interview spricht er über den Wandel der Bestattungskultur, den großen Einschnitt, den Corona für seinen Beruf bedeutet, den Tod als Tabu und wie wichtig es ist, die Endlichkeit des Lebens nicht zu verdrängen.
Am Ewigkeitssonntag gedenken wir am Ende des Kirchenjahrs der Verstorbenen. Zum Tod gehört immer auch die Beerdigung, die Trauerfeier. Wie hat sich die Bestattungskultur in letzter Zeit verändert?
Markus Maichle: Die Bestattungskultur unterliegt seit vielen Jahren einem stetigen Wandel. Aber die letzten Jahre haben sie sehr stark verändert, weil sich die Gesellschaft sehr gewandelt hat. Der Wandel von der Großfamilie der 60er Jahre zu Single-Haushalten hat einen Einfluss auf die Bestattungskultur. Außerdem leben die Kinder häufig nicht mehr dort, wo die Eltern wohnen. Zwischen 70 und 80 Prozent der Bestattungen sind in Baden-Württemberg Feuerbestattungen, weil die Gräber leichter zu pflegen sind. Außerdem ist das Interesse an Naturbestattungen gestiegen. Der ökologische Fußabdruck ist bei dieser Bestattungsart kleiner. Doch viele Menschen kehren zu alten Ritualen zurück, wenn ein Trauerfall in der Familie eintritt.
Wie wirkt es sich dabei aus, dass die Kirchenmitgliedschaft in der Gesellschaft zurückgeht?
Maichle: Bei uns im ländlichen Raum sind noch rund 90 Prozent der Bestattungen kirchlich. Aber viele Menschen treten aus der Kirche aus, wenn sie glauben, sie bräuchten sie nicht mehr. Sie sind getauft, verheiratet, ihre Kinder sind getauft und ihre Beerdigung kümmert sie nicht. Tod und Trauer werden weit weggeschoben. Oder das Thema beschäftigt die Menschen emotional zu stark und sie wollen sich nicht damit befassen. Wenn dann ein Trauerfall eintritt, ist es meist ein Problem, dass der Verstorbene aus der Kirche ausgetreten ist. Es gibt zwar die Möglichkeit eines freien Trauerredners. Aber die Familie würde sich vielleicht wünschen, dass die Urne in die Kirche kommt oder dass der Pfarrer zur Hausaussegnung kommt. Angehörige wünschen sich für die Trauerfeier häufig auch einen Pfarrer, den sie gut kennen. Es wäre gut, wenn die Menschen die Folgen ihres Austritts wirklich gut durchdenken würden. Ich bin überzeugt, in der Zeit des Sterbens würden viele Menschen ihren Austritt rückgängig machen, wenn das möglich wäre.
Welche freieren Formen der Würdigung von Toten gibt es heute?
Maichle: Vor über zwanzig Jahren ist ein Freund von mir gestorben und der Pfarrer sagte mir damals: „Diese Musik können wir nicht zur Bestattung abspielen.“ Wir haben sehr heftig diskutiert, bis er gesagt hat: „Das wird das letzte Musikstück und ich muss ja nicht bleiben.“ Aber die Kirche hat sich verändert. Ob Angehörige Luftballone steigen lassen wollen oder die letzten Wünsche des Verstorbenen auf den Sarg schreiben – wenn Familien sich wünschen, dass bei einer Trauerfeier ein besonderes Ritual durchgeführt wird, wird ihnen der Wunsch erfüllt. Ich finde es aber wichtig, dass eine Bestattung nicht zum Event wird.
Ein besonders schönes Ritual?
Maichle: Vor wenigen Tagen wurde ein Bergmann bestattet. Seinen Kindern war es wichtig, dass am Grab seine Grubenlampe und seine Werkzeuge, Hammer und Schlegel, stehen. Und sein Hobby war seine Modelleisenbahn. Unter seinem Bild lagen all seine Lieblingsdinge.
Ist Tod noch immer ein gesellschaftliches Tabu?
Maichle: Ich stelle fest, dass besonders junge Menschen schwer mit dem Thema Trauer und Tod umgehen können. Sie brauchen viel mehr Zuspruch, wenn eine Person aus ihrer Familie verstirbt. Mir ist es wichtig, mit Konfirmandengruppen, Schulklassen und anderen Gruppen Trauer und Tod zu enttabuisieren. Ich sage zu ihnen: „Schau, das passiert am Ende des Lebens“ und „Sterben musst du auf jeden Fall, aber nicht heute“. Je jünger Menschen mit dem Tod in Berührung kommen und je besser sie über das Thema informiert sind, umso weniger Grauzonen gibt es und umso weniger Ängste. Dann sind die Kinder manchmal besser aufgeklärt als ihre Eltern. Denn manche Eltern sind nicht begeistert, dass ihre Kinder hierherkommen, und wollen sie schützen.
Viele Menschen versuchen auch, ihre Kinder bei der Trauerarbeit auszuklammern, und glauben, diese könnten das noch nicht verarbeiten, sie seien zu klein. Das stimmt nicht: Wenn ein Kind vier oder fünf Jahre alt ist, begreift es den Tod der Großeltern sehr gut. Ich habe eine Schale, in der kleine Holzformen liegen. Kinder dürfen sich zum Beispiel ein Herz herausnehmen und es mitnehmen. Das andere Herz aus dem gleichen Holz legen sie ihren verstorbenen Großeltern in die Hand. Mir ist es wichtig, dass sich Kinder verabschieden.
Woher kommt das?
Maichle: In unserer Gesellschaft ist das Hier und Heute manchmal viel wichtiger als irgendetwas anderes. Da passt das Thema Endlichkeit nicht gut hinein. In der Werbung wird uns vorgemacht, dass alle Menschen immer jung sind. Der Tod zeigt uns Grenzen auf und das kennen wir in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr. Höher, schneller, weiter: Wir sind überrascht, wenn eine Person stirbt.
Wie haben Sie als Bestatter die Corona-Pandemie erlebt?
Maichle: Seit dem 16. Lebensjahr bin ich in der Bestattungsbranche. Alles, was ich darüber gelernt habe, wie man richtig mit einem Trauerfall umgeht, war mit Covid-19 mit einem Schlag weg: Empathie, ein würdevoller Umgang, Menschen in ihrer Trauerarbeit zu unterstützen und zu versuchen, in jeder Gesellschaftsschicht, egal ob arm oder reich, die richtigen Worte zu finden. Der erste Haussterbefall in dieser Zeit: Der verstorbene ältere Mann lag drinnen auf dem Sofa. Die Familie stand vor dem Haus. „Die Papiere liegen drinnen auf dem Tisch, wir warten draußen“, sagte der Sohn zu mir. Ich habe mich gefühlt wie ein Paketbote. Als wir wieder im Auto gesessen sind, war mein erster Satz: „Wenn das so losgeht, dann brauche ich morgen einen neuen Beruf.“ Es war für mich unbegreiflich.
Was hat sich verändert?
Maichle: Ich versuche, mit Angehörigen im Trauerhaus die Lieblingskleidung rauszusuchen. Ich liebe es, wenn eine alte Frau das Kleid trägt, das sie an ihrem 90. Geburtstag getragen hat. Ich liebe es, wenn der Opa einer Familie seine Latzhose trägt, mit der er am liebsten im Garten bei seinen Obstbäumen war, und um den die Kinder Angst hatten, dass er vom Baum fällt. Ich bin ganz eng dabei bei den Angehörigen. Für mich ist mein Beruf eine Passion. Wenn ich von einer alten Frau bei einem Trauerfall zum Dank umarmt werde, wenn ich mit einer Tochter gemeinsam den Vater wasche und anziehe, ist das für mich ein Lohn. Ich gehe aus der Beratung nach Hause und bin froh, wie es lief. Das war mit Corona alles nicht mehr möglich, es war wie von heute auf morgen weggewischt.
Welche Folgen hatten die Kontakt-Beschränkungen?
Maichle: Es durften zuerst drei Personen zur Bestattung kommen, dann fünf. Am schlimmsten war für mich die Regelung: Keine Verabschiedung von Verstorbenen am offenen Sarg, auch wenn sie nicht Corona haben. Wo bleiben die Menschen mit ihrer ganzen Trauer? Wie gehen sie damit um? Manche Angehörigen durften schon zwei oder drei Wochen vorher nicht mehr ins Pflegeheim, weil die Bewohner in Quarantäne waren. Wie wollen wir es wieder gutmachen, wenn ein Leben schön war und der Abschluss so bitter ist, weil die Kinder ihren Vater nicht mehr sehen konnten oder nicht alle zur Bestattung kommen durften?
Ich finde es gut, wenn Menschen sich von Verstorbenen am offenen Sarg verabschieden können, weil sie in unserer modernen Hochleistungsgesellschaft in diesem Zeitraum innehalten müssen. Sie müssen sich den Tod selbst vor Augen führen, und dann kann die Trauerarbeit beginnen.
Und die Trauer ist nicht ein Trauerjahr. Man wird um einen Menschen, den man geliebt hat, immer trauern, solange man lebt. Und es wird immer einen Moment geben, in dem dieser Mensch fehlt. Oder er fehlt den ganzen Tag, so wie der Ehepartner, der immer präsent war, alles für einen gemacht und einen geliebt hat.
In unserem Haus haben wir die Zeit der Trauerfeier verlängert. Die Angehörigen und Freunde hatten die Möglichkeit, sich einen ganzen Nachmittag lang nacheinander von den Verstorbenen zu verabschieden. Außerdem übertragen wir viele Trauerfeiern per Skype. Ich hoffe, das bleibt nicht so, weil ein Teil der Angehörigen sonst wieder die Chance ergreift, die Trauer möglichst nicht an sich heranzulassen und den Tod aus dem Leben herauszuhalten.
Wie ist es für Sie, jeden Tag mit dem Tod umzugehen? Wie hat sich das verändert?
Maichle: Früher war es mehr Leichtigkeit. Mit zunehmendem Alter mache ich mir mehr Gedanken – auch über den eigenen Tod. Es prägt mich, macht etwas mit mir und mit meiner Lebenszeit. Für mich sind es die kleinen Dinge, die wertvoll sind und die mich tragen. Manchmal bin ich schon erstaunt, wie plötzlich der Tod kommen kann.
Was wünschen Sie sich von der Kirche?
Maichle: Wir haben zwei Jahre Corona hinter uns, und zwei Jahre verändern sehr viel im Menschen. Ich finde es wichtig, den Leuten wieder einen festen Glauben und Halt zu geben. In der Corona-Pandemie gab es keine Kirchenfeste, keine gemeinsamen Zusammentreffen. Gesellschaftlich ist kein Stein mehr auf dem anderen. Wir müssen den Menschen Trost und Zuwendung geben, um sie wieder mitzunehmen. Die Kirche sollte zeigen, dass sie für die Menschen da ist, und lebensnahe Unterstützung und Unterstützung im Glauben anbieten. Die Menschen müssen wieder auf den richtigen Weg kommen und brauchen wieder Hoffnung. Ich habe unserem Pfarrer schon gesagt, dass wir gemeinsam ein Fest veranstalten, wenn wir wieder dürfen: Wir suchen uns einen schönen Ort und setzen uns alle mal wieder zusammen, wir haben gute Gespräche und sehen uns wieder.