Stuttgart. Fast 40 Jahre lang war Pfarrer Roland Martin in der Gehörlosenseelsorge tätig, davon acht Jahre als Landesgehörlosenseelsorger. Ende September geht der 65-Jährige in den Ruhestand. Im Gespräch mit Ute Dilg berichtet er über die Herausforderungen in der Gehörlosenseelsorge und lässt seine Laufbahn Revue passieren.
Warum gibt es für Gehörlose im Gegensatz zu anderen Menschen mit Behinderungen ein eigenes Pfarramt?
Gehörlose können am Gottesdienst für Hörende nicht gleichberechtigt teilhaben, im Gegensatz zu Schwerhörigen, Rollstuhlfahrern, Blinden oder auch Menschen mit geistigen Einschränkungen. Die Gottesdienste für Hörende sind sehr wortlastig. Die Musik und das Singen spielen eine große Rolle. Das ist für Gehörlose etwas Fremdes. Sie haben ihre eigene Kultur.
Wie muss man sich einen Gottesdienst für Gehörlose vorstellen?
Gehörlosengottesdienste sind visuelle Gottesdienste. Sie dauern normalerweise nicht länger als eine halbe Stunde. Das liegt daran, dass sich die Gemeindeglieder die ganze Zeit auf einen Punkt konzentrieren müssen, an dem gerade etwas passiert. Das ermüdet sehr. Man muss also für „Augenpausen“ sorgen. Die Liturgie ist allerdings ganz ähnlich zu anderen Gottesdiensten. Es gibt eine Begrüßung, ein Gebärdenlied, bei dem alle gemeinsam einen poetischen Text gebärden, Gebete und natürlich eine Predigt. Ich versuche in der Regel meine Predigt mit Visualisierungen anzureichern, etwa mit Bildern, Filmclips oder auch nur Symbolen. Zum Schluss beten wir das Vaterunser, und es gibt einen Segen.
Sie sprachen davon, dass Gehörlose eine eigene Kultur haben. Wie ist das zu verstehen?
Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist eine andere. Menschen, die hören können, deuten ihre Umwelt anders, weil sie neben visuellen und schriftlichen Informationen auch Geräusche oder Stimmen zur Verfügung haben. Die Grundlage der Kultur von Gehörlosen ist die Gebärdensprache. Sie ist quasi ein dreidimensionales Abbild der Wirklichkeit – wenn man so will ein kleines Theater. Mit einer Gebärde wird oft viel mehr ausgedrückt als das, was wir in einem Wort sagen. Ein Beispiel: Man sagt in der Gebärdensprache nicht „ich gehe“, sondern drückt mit der Gebärde auch die Richtung oder das Tempo aus: „ich gehe schnell“, „ich gehe langsam“ oder „ich gehe von A nach B“.
Wie viele gehörlose Gemeindeglieder hat die Landeskirche? Und wie integriert sind diese in den Kirchengemeinden?
Gehörlosigkeit ist nicht statistisch erfasst. Das heißt, wir wissen nicht, wie viele gehörlose Gemeindeglieder die Landeskirche hat. In unseren Gehörlosengottesdiensten sitzen außerdem auch viele Katholiken. Sie sind eine ökumenische Angelegenheit, denn Gehörlose gehen dahin, wo ihre Sprache gesprochen wird. Viele haben aber hörende Verwandtschaft. Deshalb fühlen sie sich gerade in der Kleinstadt oder auf dem Dorf auch der örtlichen Kirchengemeinde zugehörig. Sie wissen zwar, dass sie nichts vom Sonntagsgottesdienst haben. Aber dass der Pfarrer zum Geburtstag gratuliert, ist ihnen wichtig.
Wie ist die Gehörlosenseelsorge in der Landeskirche generell organisiert?
Wir haben in Württemberg gut 20 Gottesdienstorte für Gehörlose. Die meisten davon werden von ganz normalen Gemeindepfarrern betreut, die sich im Nebenamt in der Gehörlosenseelsorge engagieren. Das habe ich in der Stuttgarter Markusgemeinde auch fast 30 Jahre gemacht. Generell ist die Gehörlosenseelsorge eine Aufgabe der Kirchenbezirke. Die haben dafür zu sorgen, dass sie personell und finanziell ordentlich ausgestattet ist. Allerdings ist das in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden, weil die einzelnen Pfarrerinnen und Pfarrer immer mehr Aufgaben haben.
Was muss man können als Gehörlosenseelsorger oder –seelsorgerin?
Man muss sich ein Stück weit die Gebärdensprache aneignen und alles einsetzen, was zusätzliche Informationen bringt – Mimik und Mundbild zum Beispiel. Außerdem sollte man die Fähigkeit haben, komplexe Sachverhalte in möglichst konkrete und möglichst visuelle Einheiten umzusetzen. Wenn jemand neu anfängt, dann sorge ich dafür, dass er oder sie einen zweiwöchigen Kurs besucht, um die Grundlagen der Gebärdensprache zu lernen. Danach üben wir gemeinsam – zuerst die Standardliturgie, das Vaterunser und so weiter Dann kommt der erste Gottesdienst mit mir oder einem anderen erfahrenen Kollegen, bei dem der oder die Neue dann Teile übernimmt. Und irgendwann kommt dann der Punkt, an dem die Leute den Gottesdienst alleine halten können.
Wie sind Sie Gehörlosenpfarrer geworden? Hatten Sie ein besonderes Interesse daran, eine familiäre Prägung, also etwa Gehörlose in der Familie?
Ich bin mit Gehörlosen aufgewachsen. Mein Vater hat in Winnenden die Berufsschule und später das Berufsbildungswerk für Hörgeschädigte geleitet. Außerdem war er Hausvater im Lehrlingswohnheim. Ich hatte also quasi hundert große gehörlose Brüder. So habe ich schon als Kind gelernt, mich mit Gehörlosen zu verständigen. Damals noch mit lautsprach-begleitendem Gebärden. Die Deutsche Gebärdensprache wurde erst später Standard. In meiner zweiten theologischen Prüfung habe ich dann das Thema „Gehörlose in der Kirche“ angegeben. Ich dachte, dazu kann ich immer was erzählen. Ich wollte einfach gut durchkommen. Doch mein Prüfer fragte mich danach, ob ich mir vorstellen könnte, in der Gehörlosenseelsorge zu arbeiten. Und was sagt man da, wenn die Noten noch nicht gemacht sind… Jedenfalls konnte ich dann kurz darauf in der Stuttgarter Markusgemeinde anfangen mit einem Stellenanteil in der Gehörlosenseelsorge.
Sie sind seit acht Jahren Landesgehörlosenpfarrer. Was sind Ihre Aufgaben?
Ich kümmere mich um die Ausbildung der nebenamtlichen Gehörlosenseelsorger. Für die biete ich Kommunikationstage an, damit sie Gelegenheit haben, die Gebärdensprache zu üben. Ich halte Gottesdienste und Kasualfeiern wie Taufen oder Beerdigungen, dolmetsche viel und biete regelmäßige Sprechstunden für Gehörlose an. Früher habe ich viele Freizeiten für Gehörlose organisiert, um einfach das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. In den letzten Jahren sind wir dazu übergegangen, ein Sommerprogramm mit verschiedenen Ausflügen anzubieten, die man auch einzeln buchen kann. Das ist wie ein Urlaub, ohne die Koffer packen zu müssen. Das wird sehr gut angenommen, auch von den Jüngeren. Alle zwei Jahre organisiere ich mit meinem Team einen Landesgehörlosenkirchentag. Voriges Jahr sind über 300 Gehörlose gekommen.
Sie gehen Ende September in den Ruhestand. An was erinnern Sie sich gerne zurück? Und woran nicht so gerne?
Ich erinnere mich gerne an die besonderen Gottesdienste. Zum Beispiel durfte ich ganz zu Anfang meiner Laufbahn als Gehörlosenseelsorger 1987 in Frankfurt beim Kirchentag den Eröffnungsgottesdienst für Gehörlose leiten. Das war Adrenalin pur. Jetzt zum Schluss halte ich nochmal einen Gottesdienst zum Tag der Gebärdensprache auf der Bundesgartenschau. Natürlich gibt es aber auch unschöne Erinnerungen. Zum Beispiel, wenn ich als Seelsorger mit Gehörlosen mit Suchtproblematik zu tun hatte oder mit schwierigen Familiensituationen. Einmal habe ich erlebt, wie ein Kind aus seiner Familie genommen werden musste, weil es vom Vater misshandelt wurde. Das war fürchterlich. Insgesamt aber überwiegen die positiven Erinnerungen. Wer einmal „Blut geleckt“ hat, der kommt nicht mehr weg von der Gehörlosenseelsorge. Man bekommt sehr viel zurück, einfach weil gehörlose Menschen sehr spontan und authentisch sind.
Was haben Sie sich für Ihren Ruhestand vorgenommen? Oder wird es eher ein Un-Ruhestand?
Ich werde weiterhin die Gehörlosengemeinde in Göppingen betreuen. So ganz kann ich die Gehörlosenseelsorge also nicht lassen. Außerdem habe ich vier Enkelkinder, mit denen ich Zeit verbringen will. Musik und Kunst sind mir ganz wichtig. Meine Frau und ich möchten in nächster Zeit viele Museen besuchen. Zudem bin ich Vorsitzender des Fördervereins des Knabenchors collegium iuvenum stuttgart. Und dann habe ich noch verschiedene Hobbys. Ich entwickle zum Beispiel gerne Spiele. Einige liegen halbfertig daheim rum. Vielleicht komme ich jetzt dazu, sie fertigzustellen.