Stuttgart/Weilheim-Teck. Er gilt als "Vordenker" und "meinungsstarker Brückenbauer", als "begnadeter Prediger" und "Meister der Anekdote" - und als "Spezialist für die sich wechselseitig erhellende Zusammenschau von Theologie, Kunst und Zeitgeschichte". Am Sonntag, 23. Oktober, wird der frühere Heilbronner Prälat Paul Dieterich 70 Jahre alt. Er lebt heute in Weilheim an der Teck.
"Zehn Generationen waren meine Vorväter fast alles Pfarrer – wir können nichts anderes", sagte er einmal. Und tat sich oft schwer mit seiner Kirche. Jung sei er gewesen und radikal, auch als 19-jähriger Wehrdienstverweigerer. Und "am liebsten explodiert", als ihn während seines Theologiestudiums ein älterer Pfarrer gefragt habe, ob er denn seine Kirche liebe. Ausgerechnet ihn, den man nach seinem Onkel Paul Schneider benannt hatte, der Pfarrer der Bekennenden Kirche war und zum "Prediger von Buchenwald" wurde. Das damalige "Heuchelsystem Kirche" habe Schneider 1939 zur Ermordung im KZ freigegeben. Jahrzehnte lang ziert das Foto seines Onkels den Schreibtisch Paul Dieterichs.
Kirche, wie er sie sich wünscht, mischt sich in gesellschaftlichen Fragen ein, misst jede Art von Politik daran, was sie für die Ärmsten bewegt und leistet Friedensdienste, statt Militärgewalt zu befürworten. Sie setzt sich für Behinderte ein und engagiert sich für die Bewahrung der Schöpfung. Dieterich ist zunächst Pfarrer in Aichtal-Grötzingen, an der Stadtkirche Ravensburg und dem Ulmer Münster, später Dekan des Kirchenbezirks Schwäbisch Hall. Ab 1999 führt er sieben Jahre lang die Prälatur Heilbronn mit ihren 580.000 evangelischen Christen in 15 Kirchenbezirken, der größten diakonischen Bezirksstelle der Landeskirche und der Bildungsstätte der evangelischen Bauernarbeit in Hohebuch.
Daneben engagiert er sich ehrenamtlich im Kuratorium der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, als Vorsitzender des Verwaltungsausschusses und der Mitgliederversammlung des Evangelischen Diakoniewerks Schwäbisch Hall sowie als Vorsitzender des Kuratoriums von Stift Urach. Er schreibt Biografien, etwa über Martin Luther, Dietrich Bonhoeffer, Leo Tolstoi und Eduard Mörike.
Und er ist immer wieder vor Ort, auch dort, wo nur wenige freiwillig hingehen. "Ich war in der hoch verstrahlten Zone nördlich von Tschernobyl, bin da durchgewandert, war in den Krebskliniken in Weißrussland, habe die Menschen sterben sehen, die Kinder", weiß er zu berichten.
Manche, die sich so engagieren, werden dogmatisch, verhärten oder werden müde. Paul Dieterich nicht. "Er argumentiert so meinungsfreudig – und doch will das Wort 'streitbar' auf ihn so gar nicht passen; er bezieht prägnant Positionen – aber nie verkündet er sie im Predigerton als absolute Wahrheiten; er trägt sie vor als Versuche im buchstäblichen Sinn: als gedankliche Suchbewegungen", weiß ein Beobachter zu berichten.
Ihm liegt der Zusammenhalt in der Kirche am Herzen, die Gemeinschaft der Gläubigen - und die Ökumene. "Es ist kein Zeichen geistlicher Reife, wenn Christen ihre eigene 'Spiritualität' so tierisch ernst nehmen, dass sie dann feststellen müssen, sie passe nicht zur Spiritualität anderer und also müssten sie sich mit Leuten gleicher Spiritualität zusammentun", sagt er in seiner Abschiedspredigt als Prälat in der Heilbronner Kilianskirche. Und er wünscht seiner Landeskirche "eine Erneuerung ökumenischer Existenz". Paul Dieterich wörtlich: "Evangelisch heißt: vom Evangelium befreit zu ökumenischer Weite."
Oliver Hoesch