Stuttgart/Lutherstadt Wittenberg. „Wir haben durch die friedliche Revolution in der DDR ein bedrückendes System überwunden, aber einen zerstörerischen Zivilisationsweg nicht verlassen.“ Davon ist der evangelische Theologe, Publizist, Bürgerrechtler und Vorkämpfer der Opposition in der ehemaligen DDR, Friedrich Schorlemmer, überzeugt. Er hat aus Anlass der am Sonntag, 11. November, beginnenden Ökumenischen Friedensdekade ein Interview für die Website der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, www.elk-wue.de, gegeben. Darin sagt er: „Eine grundlegendere Wende steht uns ins Haus, wenn wir uns und unseren Enkeln die Lebensgrundlagen erhalten wollen.“ Die Ökumenische Friedensdekade mündet in den Buß- und Bettag am 21. November.
Es gelte die Konsequenz aus der Erkenntnis zu ziehen, dass ein Mittel wie Geld nicht zum Ziel werden darf und dass die Verfügung über Zahlungsmittel noch keine Sinnstiftung sei, so der Theologe aus der Lutherstadt Wittenberg. Die Kirchen stehen aus seiner Sicht vor der großen Herausforderung, den „Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ wieder neu zu beleben. Sie sollten „ganz umfassend und ganz konkret von Gottes Schalom künden“ und öffentlich Stellung gegen die steigenden Waffenexporte sowie den Bundeswehreinsatz in Afghanistan beziehen und widersprechen, wenn Deutschland etwa Drohnen kaufen will.
Schorlemmer weist eindrücklich auf den Beitrag hin, den die evangelische Kirche und die Friedensbewegung in der DDR zur friedlichen Revolution und zum Fall der Mauer geleistet haben. „Wir haben mitten in der diktatorisch-ideologischen Einheitsgesellschaft eine Diskussionskultur entwickelt und wir haben auch durch die demokratisch gewählten Synoden und Vertretungen der Jungen Gemeinde Demokratie geübt. Und Friedfertigkeit. Und Konsequenz. Das war Teil der Friedensarbeit.“ Durch Friedensgebete und Friedensspaziergänge hätten viele einen neuen Zugang zum Gebet bekommen, und die Kirche habe den Menschen Schutz geboten. Die Friedensdekaden hätten einen wichtigen geistlichen Impuls gesetzt, aber auch Verhalten eingeübt. „Sie haben damit eine der wesentlichen Voraussetzungen für den friedlichen Verlauf des demokratischen Umbruchs geschaffen“, so Schorlemmer. Es sind seinen Worten nach die Akteure aus den Friedensgruppen und viele kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewesen, die den Puffer bildeten, wenn der Konflikt zwischen Staatsmacht und Volksmassen in der friedlichen Oktoberrevolution 1989 zu eskalieren drohte.
Der Buß- und Bettag hat für Schorlemmer nichts von seiner theologischen und politischen Brisanz eingebüßt. „Weil das nach wie vor ein wichtiger Besinnungstag ist. Ein Tag der prophetischen Selbsterkenntnis und der Freude am Evangelium. Es geht darum, einen kritischen Blick auf unser Leben zu werfen und im Angesicht der mahnenden und tröstenden Botschaft Jesu Nichtgelungenes und Verfehltes zu bedenken, Selbsttäuschung aufzugeben und neue Perspektiven zu gewinnen. Wir Christen nennen dies Umkehr zum Leben“, so Friedrich Schorlemmer.
Oliver Hoesch
Sprecher der Landeskirche