Bis zum Sonntag findet in Stuttgart das Deutsche Chorfest 2016 statt. Und natürlich ist die Kirche mit von der Partie. Stiftskirchenkantor Kay Johannsen hat bereits zu Beginn der Veranstaltung am 26. Mai eines der drei Eröffnungskonzerte geleitet. Heute hat er in die Stiftskirche zum gemeinsamen Singen eingeladen – dem „Morning Sing“. Jens Schmitt hat mit ihm gesprochen.
Herr Johannsen, was ist das Besondere am gemeinsamen Singen?
Das Singen in einer Gemeinschaft ermöglicht zweierlei: Einerseits kann ich meine eigene Stimme erheben und dadurch meinen Körper intensiv spüren. Vielleicht ermöglicht mir das Singen sogar, dass ich mich freier fühle, dass meine Seele „Luft“ bekommt. Andererseits fühle ich mich im Chor aufgehoben, sowohl mit meinem Instrument, der Stimme, aber auch einfach als Mensch. Wenn sich der gemeinsame Klang schön entfaltet und ich ein Teil davon bin, ist das ein tolles Erlebnis. Für manche Chorsänger mag das elementare Vergnügen am Singen im Vordergrund stehen, andere möchten gerne tief in verschiedene Musikstile eindringen und investieren viel Zeit in die Proben. Aber für alle gilt wohl, dass Singen regelrecht glücklich machen kann.
Was bedeutet Musik für den Glauben?
Darüber könnte man eine Doktorarbeit schreiben! Ich könnte es mir leicht machen und Martin Luther zitieren, für den Musik bekanntlich eng mit seinem theologischen Denken und seinem reformatorischen Werk verbunden war. Für mich selbst ist die Überzeugung wichtig, dass der Glaube den Menschen doch wohl in seiner „Ganzheit“ betreffen und berühren soll. Wie sollte dann die Musik nicht der vollkommenste Ausdruck des Glaubens sein, wenn wir uns gerade beim Musizieren als „ganze Menschen“ fühlen können – mit Verstand, Herz und allen Sinnen? Übrigens sehe ich bei der Musik in der Kirche kein prinzipielles Vorrecht des Singens vor dem instrumentalen Musizieren: Man kann mit ebensolcher Begeisterung und Ausdruckskraft Violine, Oboe oder Orgel spielen wie ein Sänger seine Stimme einsetzt.
Können Sie sich einen Gottesdienst ohne Musik vorstellen?
Von einem Kirchenmusiker wird wohl kaum jemand erwarten, dass er diese Frage bejaht. Ich habe schon als Schüler Orgel im Gottesdienst gespielt und in den Jahrzehnten seit damals ist mir ein Gottesdienst ohne Musik erspart geblieben. Wenn ich mir einen reinen Wortgottesdienst vorstelle, weiß ich nicht, ob ich hinterher fröhlich und beschwingt sein könnte.
Die vier Tage Chorfest sind für Sie als Stiftskirchenkantor sicher sehr intensiv. Welche Erwartungen haben Sie an diese musikalischen Tage?
Bei einem solchen Fest steht bei den vielen bunten Veranstaltungen vielleicht nicht der künstlerische Aspekt im Vordergrund. Aber die Chöre, die von weither anreisen, können viel Motivation aus den Begegnungen mit anderen Sängerinnen und Sängern und aus den vielfältigen Höreindrücken mitnehmen. Die Organisatoren des Chorverbands haben es geschafft, ein wirklich modernes und zeitgemäßes Fest zu planen, das auch dem Wandel in der Chorszene gerecht wird. Zum Beispiel ist das Repertoire der Chöre viel internationaler geworden – ein Zeichen dafür, wie die Musik Grenzen überwindet und Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Tradition verbindet. Insofern ist ein solches Fest nicht bloß ein großer Musikspaß, sondern es ist ein wichtiges Zeugnis für Offenheit und Toleranz. Von solchen Zeugnissen können wir in der aktuellen Situation in unserer Gesellschaft gar nicht genug haben. Die Kirchen sollten deshalb solche Chorfeste auch weiterhin unterstützen, denn Wertschätzung für andere ist doch ein zentraler Aspekt der christlichen Botschaft.
Herr Johannsen, vielen Dank für das Gespräch!