In seiner Predigt am 1. Weihnachtstag in der Stuttgarter Stiftskirche macht Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl deutlich, dass die Weihnachtsgeschichte kein Idyll ist, sondern zunächst die Geschichte staatlicher Repression: “Mit dem Befehl eines autoritären Herrschers beginnt die Weihnachtsgeschichte. Der Kaiser in Rom braucht Geld. Um effektiver Steuern einziehen zu können, ordnet er eine Volkszählung an. Der Kaiser befiehlt. Die Welt gehorcht. In diese unfriedliche Welt hinein wird ein Kind geboren. Ganz am Rand der Welt. In Bethlehem.”
Schon der Ort des Geschehens, die Königsstadt Bethlehem, weise auf den Konflikt zwischen der staatlichen, diktatorischen Macht einerseits und der befreienden Kraft des göttlichen Wirkens andererseits hin, so Gohl: “Bethlehem, die Stadt Davids. Die Ahnen des Kindes sind die Könige von Israel. Bereits mit der Geburt in dieser Stadt wird deutlich: Es geht um die Frage: Wer hat am Ende die Macht über diese Welt? Und wer nicht? Die Botschaft der Engel „Friede auf Erde“, klingt anders als die „Pax Romana“, der mit militärischer Macht aufgezwungene römische Friede – ganz anders.”
In seiner Predigt verbindet Landesbischof Gohl die Weihnachtsgeschichte in der lebensnahen und handfesten Version des Lukas-Evangeliums mit dem weit abstrakteren Beginn des Johannes-Evangeliums und bringt beide zusammen: “Das Kind in der Krippe ist viel mehr als man sehen kann. Das Wesentliche an Weihnachten ist für die Augen unsichtbar. Das Kind in der Futterkrippe ist das Wort [Gottes], das Mensch wird.”
Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl hält die Predigt am 1. Weihnachtstag um 10:00 Uhr in der Stuttgarter Stiftskirche. Unten finden Sie den Volltext der Predigt.
Liebe Schwestern und Brüder!
Die Weihnachtsgeschichte muss jedes Jahr gleich sein. Das ist wichtig.
Und dennoch spricht sie jedes Jahr anders zu uns.
Diese Geschichte ist die Mitte von Weihnachten. Die Krippenspiele, die gestern in vielen Gemeinden aufgeführt worden sind, orientieren sich alle an der Geburtsgeschichte im Stall von Bethlehem, wie sie Lukas überliefert.
Der römische Kaiser August befiehlt eine Volkszählung. Deshalb muss Josef mit Maria in seine Heimatstadt Bethlehem aufbrechen. Maria ist schwanger.
Kurz vor der Geburt suchen die beiden eine Unterkunft. Doch alle Gasthäuser sind belegt. Schließlich finden sie Schutz in einem Stall. Dort kommt Jesus zur Welt. Die Futterkrippe wird zur Wiege. In der Nähe hüten Hirten ihre Schafe. Ein Engel verkündet ihnen die Geburt des Kindes. Die Hirten eilen zu dem Stall und beten Jesus an.
Diese Geschichte ist die Mitte von Weihnachten. Ohne sie gibt es kein Weihnachtsfest. Mit dem Klang ihrer Worte verbinden wir Weihnachtserfahrungen und Lebenserfahrungen.
Die Weihnachtsgeschichte muss jedes Jahr gleich sein. Das ist wichtig.
Und dennoch spricht sie jedes Jahr anders zu uns.
„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.”
In diesem Jahr bringen mich bereits diese ersten Worte zum Nachdenken.
Mit dem Befehl eines autoritären Herrschers beginnt die Weihnachtsgeschichte. So sehr autoritäre Führungspersönlichkeiten in unseren unsicheren Zeiten Zuspruch finden, das Weihnachtsevangelium hält fest: Dieses System der starken Führer basiert auf Befehl und Gehorsam. Freiheit kennt es nicht. Widerspruch wird nicht geduldet. Der Kaiser befiehlt. Die Welt gehorcht.
In diese unfriedliche Welt hinein wird ein Kind geboren. Und wie gewalttätig die Welt auch bei uns ist, hat uns der Anschlag in Magdeburg wieder vor Augen geführt. Aber genau in diese unfriedliche Welt kommt Gott. Nicht im Zentrum der Macht in Rom. Sondern ganz am Rand in Bethlehem.
Bethlehem, die Stadt Davids. Die Ahnen des Kindes sind die Könige von Israel. Bereits mit der Geburt in dieser Stadt wird deutlich: Es geht um die Frage:
Wer hat am Ende die Macht über diese Welt und wer nicht?
Haben die, die Macht, die mit grauenhaften Anschlägen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, um Angst und Schrecken zu verbreiten? Oder die, die mit ihrem unglaublichen Reichtum und ihrem Zugriff auf die Sozialen Netzwerke die öffentliche Meinung manipulieren und meinen die Welt sei ein Unternehmen? Oder die, in ihren Palästen mit ihren Soldaten?
Wer hat am Ende die Macht über diese Welt? Diese Menschen oder Gott?
Die Botschaft der Engel „Friede auf Erde“, klingt auf jeden Fall anders als die „Pax Romana“, der mit militärischer Macht aufgezwungene römische Friede – ganz anders.
Gott ist seine Welt nicht gleichgültig. Deshalb wird er Mensch. Das feiern wir an Weihnachten. Und dieses Ereignis wird unterschiedlich erzählt. Heute folgen wir dem Evangelium nach Johannes. Seine Weihnachtsgeschichte beginnt vor aller Zeit. Mit zentralen Worten deutet er das Geschehen von Weihnachten. Der Beginn des Evangeliums begreift die Welt in Gegensätzen: Licht und Finsternis, Gott und Mensch, Wort und Fleisch. In Christus werden diese Gegensätze überwunden. Gott wird dabei anschaulich. So anschaulich wie die Weihnachtsgeschichte vom Stall zu Bethlehem. Deshalb will ich die Deutung des Johannes von Weihnachten in eine Erzählung übersetzen.
Zwei Hirten sind unterwegs. Vom Alter her könnten es Vater und Sohn sein. Früh morgens haben sie sich auf den Weg gemacht. Sie gehen zügig. Jeder Schritt wirbelt Staub auf. Immer wieder schauen sich nach oben, so als suchten sie etwas. Der Weg ist anstrengend. Der Ältere keucht hörbar. Der Jüngere hat Schweißperlen auf der Stirn.
Orgel intoniert leise EG 540 („Stern über Bethlehem).
Beide Männer tragen ihre Arbeitskleidung. Festtagskleidung braucht es offensichtlich dort nicht, wohin sie unterwegs sind.
Wir haben die Weihnachtsgeschichte des Lukas noch im Ohr. Mitten in der Nacht – wenn es den Raubtieren besonders leichtfällt, Schafe zu reißen, und die Hirten noch aufmerksamer sind – mitten in der Nacht erscheinen den Hirten ein Engel. Ohne Umschweife verkündigt er ihnen die Geburt Jesu. Und dann heißt es: „Und die Hirten kamen eilend zur Krippe“.
Doch zurück zu Johannes. Jetzt ist die Nacht vorbei. Ein neuer Tag bricht an. Die beiden Hirten sind außer Atem. Sie erreichen den Stall und treten ein. Als Hirten gilt ihr erster Blick den Tieren. Vom Hörensagen wissen sie: Hinten im Stall stehen Ochs und Esel. Doch der Stall ist leer. Dass Ochs und Esel nicht da sind, ließe sich verschmerzen. Sie sind ja nicht ihretwegen losgezogen. Sie haben sich auf den Weg gemacht, weil der Engel angekündigt hatte: „Ihr werdet finden das Kind in Wickeln gewickelt und in eine Krippe liegen“. Und jetzt: Die Krippe ist leer. Und auch Maria und Josef sind nirgends zu sehen. Sie sind zu spät. Alle sind weg. Verwundert schauen sich die beiden Hirten an. Sie waren nicht früher losgekommen. Ausgerechnet in dieser Nacht hatte ein Schaf ein Schäflein zur Welt gebracht. Deshalb waren sie bei der Herde geblieben. Den anderen, die aufbrachen, hatten sie noch zugerufen: „Wir kommen nach!“
Doch es dauerte länger als gedacht. Deshalb hatten sie es erst am frühen Morgen geschafft.
Und jetzt? Jetzt stehen die beiden Hirten im leeren Stall und schauen sich ratlos an. Vielleicht war es der falsche Stall? Vielleicht hatten sie es sich alles auch nur eingebildet?
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen (Joh 1,1-5).
Nach dem neugeborenen Kind hatten sie gesucht. Am Stern von Bethlehem hatten sie sich orientiert. Klar, dass sein Leuchten bei Tagesanbruch schwächer wurde. Doch der Ort musste stimmen. Aber anders als erwartet, treffen sie im Stall nicht das Neugeborene und seiner Eltern an – und auch nicht Ochs und Esel.
„Im Anfang war das Wort“. Die Arbeit mit den Schafen ist durch nichts zu ersetzen. Wer so eng mit Tieren zusammenlebt, ist geerdet. Doch was Johannes über Weihnachten erzählt, ist anders. Geradezu das Gegenteil. Alles kommt vom Wort. Am Anfang: das Wort. Gott: das Wort. Die Welt: das Wort. Nichts ohne das Wort. Alles mit dem Wort.
Der ältere Hirte sagt: „Das Kind, das hier in der Krippe zur Welt kam und jetzt nicht mehr da ist: Das bekomme ich einfach nicht zusammen. Es ist nicht da. „Stimmt“, sagt der Jüngere. „Ich verstehe es auch nichts. Wahrscheinlich haben wir uns einfach geirrt“.
Orgel intoniert EG 37 (Ich steh an Deiner Krippen hier).
„Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen / und weil ich nun nichts weiterkann, bleib ich anbetend stehen. / O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, / dass ich dich möchte fassen.“
Das Kind in der Krippe ist viel mehr als man sehen kann. Das Wesentliche an Weihnachten ist für die Augen unsichtbar. Das Kind in der Futterkrippe ist das Wort, das Mensch wird.
Und dann kniet der jüngere plötzlich neben der Futterkrippe nieder und sagt laut und deutlich: „Ich kann dich nicht sehen, großer Gott, aber ich glaube, dass du in diesem Kind zur Welt gekommen bist.”
„Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht; und die Welt erkannte es nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus menschlichem Geblüt noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind. Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“. (Joh 1,9-14)
Plötzlich ist der ganze Stall von einem Leuchten erfüllt. Es ist nicht der Stern von Bethlehem, der dieses Leuchten schenkt. Es ist auch nicht die Sonne. Das Licht strahlt direkt aus der Krippe. „Das ist das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet“ ---- „Und das Wort ward Fleisch und wohnt unter uns und wir sehen seine Herrlichkeit“.
Besser kann man nicht sagen, was wir an Weihnachten feiern. Das spüren die beiden. Christus ist das Licht der Welt. Dieses Licht strahlt an diesem ersten Weihnachtsmorgen. Mit diesem Strahlen im Gesicht machen sich die Hirten auf den Heimweg.
„Am Anfang war das Wort“, so hatten sie es gehört. Jetzt ist das Wort in der Welt. Dieses Wort verwandelt diese Welt. Es heilt. Es schenkt Gemeinschaft.
Es hält an einem letzten Sinn für jedes Leben und diese Welt fest.
So sind die beiden Hirten nun auf dem Weg. Ein letzter Blick zurück. Sie sehen: Das Wort, das Mensch geworden ist, liegt in der Krippe. Im Hintergrund Ochs und Esel. Neben der Krippe stehen Maria und Josef. Sie schauen auf das neugeborene Kind und zugleich wissen sie: Unser Weg führt uns zurück in eine unfriedliche, dunkle Welt. Der Grund der Weihnachtsfreude ist nicht der Zustand der Welt. Wie könnten wir nach Magdeburg oder im Blick auf die vielen Kriege und Katastrophen unserer Tage Weihnachten feiern? Der Grund der Weihnachtsfreude ist die Gewissheit: „Das Licht leuchtet in der Finsternis“. Selbst die größte Finsternis kann dieses Licht nicht verschlingen. Dafür steht Gott selbst ein. Denn: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit“.
Wunderbare Weihnacht. Amen
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