Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl sagt im Andenken an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938: „Mir ist der 9. November als Gedenktag sehr wichtig. Wir dürfen nicht vergessen, was unseren jüdischen Mitbürgern in Deutschland geschehen ist. Nie wieder ist jetzt!“ Landesbischof Gohl wird am 9. November an einer Gedenkveranstaltung im Rahmen der Synode der VELKD (Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands) in Würzburg teilnehmen.
Pfarrer Jochen Maurer, landeskirchlicher Beauftragter für den christlich-jüdischen Dialog, erinnert in seinem Wort zum 9. November (Volltext unten) daran, dass die Nationalsozialisten ein doppeltes Ziel verfolgt hätten: Sie attackierten „mit äußerster Brutalität die jüdische Bevölkerung des Deutschen Reichs: Ein unmissverständliches Signal dafür, was Jüdinnen und Juden zu erwarten hatten. Zugleich registrierten die Nazis genau, ob die nichtjüdische Mehrheit die Ausgrenzung und Herabwürdigung sowie die Gewalt gegen die jüdischen Nachbarn begrüßte oder aber wenigstens zu dulden bereit war.“
Maurer fährt fort: „Die unbequeme Frage dieses Tages ist: Wie kann es sein, dass Christen, die die 10 Gebote kennen, die Angriffe auf jüdische Menschen, auf die jüdische Gemeinschaft und Religion wort- und tatenlos hinnehmen? Buße ist also, diese beschämende Frage zu stellen.“ Zugleich weist er auf die Notwendigkeit hin, „die Opfer nicht zu vergessen und die Leiden derer, die in jenen Tagen ihr Leben verloren aufgrund des Hasses auf alles, was jüdisch ist. Das schließt die Opfer der Schoah ein – aber auch die aller Judenfeinde, die die Vernichtung jüdischen Lebens betreiben. Darum braucht unsere Gesellschaft Zeitzeugen wie Margot Friedländer und Leute, die ihren standhaften Einsatz für das Erinnern aufnehmen und über Social Media verbreiten, wie das Snapchat-Projekt Sachor in Berlin.“
Im Folgenden lesen Sie den vollständigen Text von Pfarrer Jochen Maurer:
Der 9. November verbindet uns mit einigen hervorgehobenen Daten der jüngeren deutschen Geschichte: Vor 35 Jahren fiel die Berliner Mauer. 1918 brachte die Novemberrevolution das Kaiserreich an sein Ende und öffnete den Weg zur ersten deutschen Demokratie. Fünf Jahre später fand Hitler nicht die von ihm erhoffte Unterstützung für seinen Putsch. Dann aber, 1938 im Novemberpogrom, attackierten die Nationalsozialisten mit äußerster Brutalität die jüdische Bevölkerung des Deutschen Reichs: Ein unmissverständliches Signal dafür, was Jüdinnen und Juden zu erwarten hatten. Zugleich registrierten die Nazis genau, ob die nichtjüdische Mehrheit die Ausgrenzung und Herabwürdigung sowie die Gewalt gegen die jüdischen Nachbarn begrüßte oder aber wenigsten zu dulden bereit war.
Diesem Aspekt gilt der kirchliche Gedenktag, der am 9. November 2024 an die Ereignisse vor 86 Jahren erinnert: Menschen wurden misshandelt, viele ermordet oder in den Selbstmord getrieben; zahllose Geschäfte jüdischer Eigner zerstört (auch in Württemberg) – vor allem wurden die Synagogen zu Zielen des Pogroms. Die Räume, an denen Jüdinnen und Juden sich zum Gottesdienst versammelten, wo die Tora gelesen, die Feste gefeiert und die wichtigsten Tage im Leben begangen werden. Die Botschaft war: Im nationalsozialistischen Deutschland sollte kein Platz mehr für jüdisches Leben sein.
„Sachor“ – gedenke! Diese Aufforderung (5. Mose 25,17) ruft auf, die Opfer nicht zu vergessen und die Leiden derer, die in jenen Tagen ihr Leben verloren aufgrund des Hasses auf alles, was jüdisch ist. Das schließt die Opfer der Schoah ein – aber auch die aller Judenfeinde, die die Vernichtung jüdischen Lebens betreiben. Darum braucht unsere Gesellschaft Zeitzeugen wie Margot Friedländer und Leute, die ihren standhaften Einsatz für das Erinnern aufnehmen und über Social Media verbreiten, wie das Snapchat-Projekt Sachor in Berlin.[1]
Die Farbe dieses Gedenktages ist violett: Sie steht für Buße – denn die Nazis konnten zufrieden sein. Viele hatten mitgemacht, viele andere freuten sich am Unglück und der Angst der jüdischen Opfer; noch mehr missbilligten zwar die Gewalt, blieben aber stumm. Nur wenige, wie etwa der Oberlenninger Pfarrer Julius von Jan[2], protestierten. Die unbequeme Frage dieses Tages ist: Wie kann es sein, dass Christen, die die 10 Gebote kennen, die Angriffe auf jüdische Menschen, auf die jüdische Gemeinschaft und Religion wort- und tatenlos hinnehmen? Buße ist also, diese beschämende Frage zu stellen.
„Wer Gutes tun kann und es nicht tut, macht sich schuldig.“ Dieser Vers, Jakobus 4,17, ist darum der Spruch für den Gedenktag – und natürlich zielt das Erinnern an den 9.11.1938 auf unsere Gegenwart – und auf unsere Verantwortung für die Zukunft. Das Violett dieses kirchlichen Gedenktags steht ja auch für Umkehr – zum einen hin zu Gott, zum anderen zum Nächsten. Dazu hilft der Text, der für den kommenden Samstag als Predigttext bestimmt ist. Er erzählt eine Ermutigungsgeschichte – auch aus einer Zeit der Not. Zwei Hebammen, Schifra und Pua, sollten auf Anweisung des allmächtigen Pharao die neugeborenen Jungen der israelitischen Frauen unter der Geburt zu Tode bringen. In Ex 1 wird erzählt, wie sie sich mit kühlem Kopf und entschieden diesem unmenschlichen Plan, geboren aus wahnhafter Angst, widersetzten. Es ist eine bemerkenswerte Besonderheit der hebräischen Bibel und der jüdischen Tradition, dass das Erinnern sich auf Personen richtet, die beherzt der Unmenschlichkeit entgegentreten. Diese biblische Erzählung, aber auch die Beispiele unerschrockener Retterinnen und Retter, stellen uns vor Augen, dass das möglich war und ist – auch für uns!
Wie gut, dass wir solche Geschichten in unserer Bibel haben: Gott ruft Menschen durch sein Gebot zur Verantwortung, die sich zeigt in der Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu mir selbst. Die Erinnerung an die Zerstörung der Synagogen am 9. November durch den gottlosen Hass der Nazis auf jüdisches Leben blickt selbstkritisch auf die Geschichte der Kirche. Zugleich hält sie fest, dass unsere christliche Existenz durch und durch geprägt ist vom Vertrauen auf diesen Gott Israels und Jesu Christi.
Eine Württemberger Kollegin, Pfarrerin Anja Forberg aus Rottweil, hat in ihrer Predigt zum Israelsonntag 2023 treffend und anschaulich gesagt, wie gut es ist, dass auch wir die Tora Israels in unseren Gottesdiensten hören – und dass es keineswegs selbstverständlich, aber zugleich bereichernd ist, dass wir in unserer Nachbarschaft jüdische Gemeinden haben:
„Vergesst nicht! [5. Mose 4,5 … ] Vor ein paar Wochen [Juni 2023] wurde hier in Rottweil in der Synagoge eine neue Tora-Rolle eingeweiht – ein feierlicher Akt. Gefeiert wurde das wie die Geburt eines Kindes. Als Beobachterin stand ich außen und trotzdem war das ein ganz besonderer Moment. Mich hat es mit Hoffnung erfüllt, daran teilhaben zu dürfen: Es war allen klar, dass es etwas ganz Besonderes ist, dass es hier wieder jüdisches Leben gibt, wo vor 80 Jahren Jüdinnen und Juden vertrieben wurden und sich unsere Eltern, Groß- und Urgroßeltern schuldig gemacht haben. Und ich bekam einen staunenden Blick: Nachdem die Rolle unter Gesang eingeweiht worden war, wurde der Tora-Schrein geöffnet. Auch die anderen Rollen wurden herausgeholt und unter Musik tanzend und lachend aus der Synagoge getragen. Von wegen trockene Gesetzlichkeit. Oder hat hier schon einmal jemand eine Pfarrerin mit der Altarbibel tanzen sehen?[3]
Die Freude, von der sich Pfarrerin Forberg hat anstecken lassen, Freude am Wort Gottes, das Orientierung gibt, zum Mut anstiftet und so Leben schützt und erhält – sie ist die Triebfeder, die uns dazu anhält, den Blick in die beschämende Vergangenheit zu tun und auszuhalten, damit wir es in Zukunft anders machen können.“ Jochen Maurer
Kirchengemeinden sind herzlich eingeladen, Texte wie diesen von www.elk-wue.de in ihren eigenen Publikationen zu verwenden, zum Beispiel in Gemeindebriefen. Sollten Sie dabei auch die zugehörigen Bilder nutzen wollen, bitten wir Sie, per Mail an kontakt