12.03.2022

„Was passiert, bewegt die Menschen sehr“

Matthias Vosseler ist Pfarrer der Stiftskirchengemeinde in Stuttgart. Um für die Menschen in der Ukraine zu beten, veranstaltet die Gemeinde Friedensgebete, aber sie unterstützt auch Initiativen für ankommende Geflüchtete. Im Interview erzählt Matthias Vosseler von den vergangenen Tagen.

Pfarrer Matthias Vosseler am Stuttgarter Hauptbahnhof.

Wie helfen Sie zurzeit?

Matthias Vosseler: Gerade komme ich vom Hauptbahnhof in Stuttgart. Dort helfe ich zwei Initiativen, die ankommende ukrainische Geflüchtete unterstützen, der Bahnhofsmission und der Initiative „Wolja Stuttgart“. Sie besteht vor allem aus ukrainisch- und russischsprachigen Menschen, die denen, die per Zug ankommen, erklären, wie sie zu einer Unterkunft kommen oder wo sie sich melden sollen.

Nachher bringe ich zwei Taschen Kreide und Seifenblasen zum Bahnhof, weil die Frauen und Kinder meistens eine Weile warten müssen. In dieser Zeit können sie eine Kleinigkeit essen und trinken und die Kinder können spielen. Die Spielsachen sind Spenden, zum Beispiel von einer Familie, deren Kind ich getauft habe, und von anderen Gemeindegliedern.

Was erleben Sie am Bahnhof?

Matthias Vosseler: Viele der Menschen kommen mit dem Zug in Berlin an und fahren dann in Richtung Süden, zum Beispiel nach Stuttgart oder München. Heute Morgen habe ich eine Mutter mit vier Kindern kennengelernt, die vor den Bomben geflohen ist. Jeder von ihnen hat nur eine Tasche gepackt. Sie kamen bei einer Bekannten in Frankfurt unter. Der Vater der Familie ist in Kiew zurückgeblieben, um zu kämpfen.

Eine Tochter ist Ballettschülerin. Ich bin mit Mutter und Tochter zu einer Ballettschule gegangen und habe den Kontakt hergestellt. Die Tochter kann jetzt einige Zeit in der Schule unterkommen. Ich habe gleich gespürt, dass sie sehr gerne tanzt, und es gibt in so einer Situation vielleicht nichts Besseres, als dass sie wieder tanzen kann.

Heute habe ich auch einen jungen Studenten, der nach Konstanz weitergefahren ist, zum Zug gebracht.

Außer mir hat auch ein junger Ingenieur, der bei Porsche arbeitet, geholfen. Er ist etwa 30 Jahre alt und spricht Ukrainisch und Russisch. Er hat sich extra mehrere Tage frei genommen. Ich finde es beeindruckend, wie viele junge Menschen die Geflüchteten unterstützen.

Was passiert, wenn die Menschen ankommen?

Matthias Vosseler: Die Bahnhofsmission, die ja immer am Bahnhof Hilfe leistet, ist fast rund um die Uhr da. Die Initiative „Wolja Stuttgart“ ist eine erste Anlaufstelle für die Ankommenden, weil die Sprachbarriere meist eine große Hürde ist, und es schwer macht, sich zurechtzufinden.

Wenn die Menschen Bekannte haben, bei denen sie unterkommen können, helfen wir ihnen, wie sie dorthin kommen. Wenn sie keine Kontakte haben, was häufig der Fall ist, bringen wir sie in Unterkünfte.

In den vergangenen Tagen wurden viele der Ukrainerinnen und Ukrainer in Jugendherbergen untergebracht. Aus den Jugendherbergen können sie dann in Privatwohnungen umziehen, in denen Menschen jemanden aufnehmen können – für ein paar Tage oder Wochen. Auch in Hotels können die Geflüchteten unterkommen. Das organisiert die städtische Verwaltung.

Wie viele Geflüchtete kommen denn im Moment nach Stuttgart oder fahren von dort aus weiter?

Matthias Vosseler: Ich kann es nur ungefähr sagen: Ich schätze, es sind 50 bis 100 Menschen täglich. Manche fahren weiter zu Bekannten, etwa nach Karlsruhe.

Im Moment kommen in Stuttgart noch nicht so viele Menschen an, anders als zum Beispiel in Berlin. Aber wir müssen vorausschauend denken. Wenn deutlich mehr Menschen ankommen, benötigen wir mehr Helferinnen und Helfer und Lebensmittel, um sie zu versorgen.

Was macht die Stiftskirchengemeinde, um den Menschen in der Ukraine zu helfen?

Wir haben zu zwei Friedensgebeten eingeladen. Am letzten Sonntag fand in der Stiftskirche ein ökumenisches Friedensgebet statt, das auch die katholische ukrainische Gemeinde und ihr Chor mitgestaltet haben. Auch ein griechisch-orthodoxer Pfarrer und andere Gemeindeglieder der Stuttgarter Kirchen, die Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) sind, haben daran mitgewirkt. Ein russischer Organist hat ukrainische Musik gespielt, um ein Zeichen gegen den Krieg zu setzen. Auch ein ukrainischer Musiker hat Orgel gespielt. Das war sehr bewegend.

Am Samstag veranstalten wir ein stilles Friedensgebet mit Kerzen auf dem Schlossplatz. Wahrscheinlich werden wir danach zu weiteren Gebeten aufrufen.

Was tun Sie noch?

Matthias Vosseler: Ich unterstütze mit dem, womit ich helfen kann. Ich stelle Verbindungen her und nutze meine Netzwerke und Kontakte. Ich kann helfen, kirchliche Räume zu nutzen, in denen zum Beispiel Dinge gelagert werden. Heute Morgen habe ich den Helferinnen und Helfern am Bahnhof kleine Getränkeboxen vorbeigebracht. Auch Lebensmittel bringe ich den Helferinnen und Helfern, wenn Bedarf ist.

Was ist bei Ihnen in der Gemeinde vorgegangen, als bekannt wurde, dass die Ukraine angegriffen wird?

Matthias Vosseler: Was in der Ukraine passiert, beschäftigt und bewegt die Menschen sehr. Die Kirche war seit der Corona-Pandemie nie so voll wie in den letzten zwei Wochen. Beim ökumenischen Friedensgebet haben nicht einmal alle Menschen Platz gefunden. Über 400 Menschen waren gekommen.

Es berührt mich, wie die verschiedenen staatlichen und kirchlichen Stellen und Organisationen, wie Bahnhofsmission, Caritas und Diakonie, zusammenarbeiten. Es gibt ein gutes Netzwerk für Hilfen in Katastrophenfällen. Dazu kommen situationsabhängige Initiativen, wie „Wolja Stuttgart“.

Was erhoffen Sie sich für die Ukraine?

Matthias Vosseler: Dass ein so wunderschönes Land in Freiheit leben kann. Ich war dort selbst schon einmal vor ziemlich genau zehn Jahren, auch auf der Krim. Es ist widersinnig, dass dieses Land angegriffen wird. Es gibt auch keine wirklichen Gründe. Die Gründe, die genannt werden, sind vorgeschoben und fadenscheinig.

Helfen Sie mit!

Spendenkonten:

Spendenkonto der Diakonie-Katastrophenhilfe
IBAN: DE68 5206 0410 0000 5025 02
BIC: GENODEF1EK1
Evangelische Bank eG
Verwendungszweck: Ukraine Krise

Spendenkonto des Gustav-Adolf-Werks Württemberg
IBAN: DE92 5206 0410 0003 6944 37
BIC: GENODEF1EK1
Evangelische Bank eG
Verwendungszweck: 0-581-21849 Ukraine-Nothilfe

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