Ein Reformator, der die Universität beschimpft; ein Magister, der jünger war als seine Studenten; ein Humanist, der Luther nicht mochte – diese und viele andere Geschichten rund um die Reformation, waren am Samstag, 17. Dezember, beim "Europäischen Stationenweg" an sieben Stationen in Tübingen zu hören. Gelehrte Männer und Frauen erzählten die Geschichten meist an den selben Orten, an denen sie sich vor rund 500 Jahren abgespielt hatten. Viele Besucher nutzten die Gelegenheit zu einer Reise in eine ganz andere Zeit.
So war die Kapelle des Evangelischen Stifts bis auf den letzten Platz besetzt als zwei Stiftsstudierende von Johann von Staupitz erzählten, der um das Jahr 1500 für kurze Zeit im Kloster der Augustinereremiten lebte und wirkte. Staupitz wurde später Luthers Beichtvater. Wie sehr dessen Gedanken den jungen Luther prägten, zeigten die Studierenden, indem sie Passagen aus Predigten vorlasen, die Staupitz gehalten hatte. Mit seiner Überzeugung, dass der Mensch nicht durch Werke gerecht wird, sondern im Vertrauen auf Gottes Güte, hat Staupitz nicht nur den jungen Mönch Luther in seinen Anfechtungen getröstet, sondern dessen Rechtfertigungslehre schon vorbereitet.
100 Meter Neckar abwärts empfing Tobias Jammerthal im Magistertalar seine Gäste in der Alten Burse. Der junge Kirchengeschichtler schlüpfte in die Rolle Philipp Melanchthons, der von 1512 bis 1518 in Tübingen wirkte und später zum wichtigste Mitarbeiter Luthers in Wittenberg wurde. Melanchthon hielt in Tübingen bereits als 17-Jährige Vorlesungen an der Artistenfakultät. Daneben arbeitete er als Castigator – einer Mischung aus Lektor und Werbetexter – in der Druckerei von Thomas Anshelm. In Tübingen interessierte sich Melanchthon wenig für Theologie dafür umso mehr für die antiken Klassiker. Er besuchte humanistische Gelehrtenkreise, in denen man gemeinsam Homer und andere antike Autoren las. Gemäß dem humanistsichen Wahlspruch „ad fontes“ – zurück zu den Quellen – begann er bereits in Tübingen Schriften antiker Autoren herauszugeben.
Ein weiterer wichtiger Ort für die Reformation in Tübingen war die Stiftskirche. Ihre Geschichte erzählte der ehemalige Kulturamtsleiter Tübingens, Professor Dr. Wilfried Setzler. Er stand dabei unterhalb der Kanzel, auf der der Reformator Ambrosius Blarer am 2. September 1534 die erste reformatorische Predigt in Tübingen hielt. In den folgenden Jahren wurde die Stiftskirche nach und nach von allem Altgläubigen wie Seitenaltären und Mariendarstellungen „gesäubert“. Dafür ließ Herzog Ulrich, der die Reformation in Württemberg eingeführt hatte, die Grablege seines Hauses in den Chor der Kirche verlegen. Er und sein Sohn Christoph, der die Reformation in Württemberg vollendet hat, sind dort begraben. Ein Epitaph in der Stiftskirche erinnert an den Theologen Jakob Andreä. Nach dem Tode Luthers waren seine Anhänger in vielen theologischen Fragen zerstritten. Die maßgeblich von Andreä verfasste Konkordienformel einigte die Lutheraner wieder.
In der Kapelle des Schlosses Hohentübingen erzählten die Stiftsstudierenden Elise Eckardt und Lorenz Kohl von einer Begegnung, die sich im September 1534 zugetragen hatte: Der Rat bestellte alle Pfarrer des Amtes Tübingen ein und fragte sie, wie sie es mit der neuen reformatorischen Ordnung halten wollten. Nur sieben stimmten der Ordnung zu, die übrigen zwölf baten sich Bedenkzeit aus. Mit der Einführung der Reformation ließ Herzog Ulrich auch erheben, was es in den Kirchen an Wertgegenständen wie Messgewänder, Monstranzen oder Kelche gab. Was nach Abschaffung der Messe nicht mehr gebraucht wurde, ließ er nach Stuttgart schaffen. Mit einer Bildungsreform sorgte Ulrich für die Ausbildung zukünftiger evangelischer Pfarrer. Durch ein Stipendium ermöglichte er begabten Schülern das Theologiestudium in Tübingen. Zunächst waren die Stipendiaten in der Burse untergebracht, später zogen sie in das leerstehende Augustinerkloster. Das Tübinger Stift war geboren.
Luther war ein glühender Verehrer Johannes Reuchlins. Doch dieser erwiderte die Zuneigung des Reformators nicht. Das berichtete Professor Dr. Jörg Robert vom Deutschen Seminar der Universität Tübingen im Stadtmuseum. Dort wird im kommenden Herbst eine Ausstellung über den berühmten Tübinger Humanisten gezeigt. Im sogenannten Judenbücherstreit war Reuchlin wenige Jahre vor Luther ebenfalls von der Inquisition bedroht gewesen. Er wurde zwar von allen Vorwürfen freigesprochen, aber unter dem Eindruck Luthers hob der Papst diesen Freispruch auf. Angesichts der erneuten Bedrohung lag Reuchlin nichts daran mit Luther in Verbindung gebracht zu werden. Er verwahrte sich dagegen, in Luthers Schriften lobend erwähnt zu werden. Auch sonst konnte der Gelehrte mit der Reformation wenig anfangen. Der Tumult, den Luther verursachte, war ihm zuwider.
Im Rathaus begrüßte der Leiter des Stadtarchivs Udo Rausch seine Zuhörer. Von ihm erfuhren sie, dass Tübingen am Vorabend der Reformation eine prosperierende Stadt mit einer aufstrebenden jungen Universität war. Nachdem Herzog Ulrich 1517 den Tübinger Vogt Conrad Breuning foltern und hinrichten hat lassen, lebte die Oberschicht jedoch in der Angst, es könnte ihr ähnlich ergehen. Deshalb war man in Tübingen nicht traurig, als der ungeliebte Herzog 1519 verbannt und Württemberg an die Habsburger verkauft wurde. In die Zeit der österreichischen Herrschaft viel der Große Bauernkrieg. Der Anführer der Bauern, Thomas Maier, wurde nach der verlorenen Schlacht bei Sindelfingen in Tübingen hingerichtet und war wohl zuvor im Rathauskeller eingekerkert. Als Herzog Ulrich 1534 Württemberg zurückeroberte und die Reformation einführte, waren nicht alle Tübinger begeistert.
Bei der einfachen Bevölkerung kamen die Predigten des von Ulrich eingesetzten Reformators Ambrosius Blarer gut an, aber die Tübinger Professoren widersetzte sich dem Blarer. Diese Reformationsgeschichte erzählte die Stuttgarter Historikerin Professor Dr. Sabine Holtz gemeinsam mit der Wissenschaftlichen Assistentin Uta Dehnert in der Alten Aula. In den Jahren vor 1534 hatte sich die Tübinger theologische Fakultät als Zentrum altgläubiger Gelehrsamkeit hervorgetan. Ein einfacher Übertritt kam für die selbstbewusste Professorenschaft nicht in Frage. Die Gelehrten forderten ein persönliches Gespräch mit dem Herzog oder eine öffentliche Disputation über die Sache. Da ihnen beides verwehrt wurde, blieben sie stur, weshalb Blarer die Universität einen „miststarrenden Rindviehstall“ nannte. Das Kräfteringen dauerte fast 30 Jahre. Erst nach mehreren Änderungen der Universitätsordnung und nachdem das gesamte Personal ausgetauscht worden war, konnte sich die Tübinger theologische Fakultät aufmachen, eine Führungsrolle innerhalb des Luthertums zu übernehmen.
Andreas Föhl
Medienbeauftragter im Kirchenbezirk Tübingen