Einen seiner letzten Einsätze vergisst Pfarrer Ulrich Gratz so schnell nicht. Der Leiter der Notfallseelsorge im Kreis Ludwigsburg wird noch während der laufenden Reanimation eines Säuglings alarmiert. Als er am Ort des Geschehens eintrifft, bricht der Notarzt gerade alle Wiederbelebungsversuche ab.
Jetzt müssen beide, Arzt und Seelsorger, der anwesenden Mutter und der Großmutter des Kindes die Todesnachricht überbringen. Die Großmutter erstarrt, die Mutter schreit, rennt herum, schlägt sich selbst, macht sich Vorwürfe , klagt Gott und die Welt an, kommt nicht zur Ruhe. Laufend treffen Familienangehörige und Freunde ein.
„Da geht es dann erst mal darum, zusammen mit den Leuten die Situation auszuhalten“, sagt Ulrich Gratz. „Denn jetzt kommt die Kripo ins Spiel, die in solche Fällen ermitteln muss.“ Die Angehörigen dürfen nicht zum Kind, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind. „Das kann Stunden dauern.“
Rund um die Uhr sind immer zwei Notfallseelsorger einsatzbereit und stellen sich Situationen, die andere gerne vermeiden möchten. Sie halten mit Menschen, die unendliches Leid erfahren haben, dieses aus. Sie bleiben bei ihnen, bis ihr soziales Netz wieder greift und sie wieder die Kraft und den Lebensmut finden, ihren Alltag in Angriff zu nehmen.
Die Mutter hat einen ungeheuren Drang ins Freie, will nur noch aus der Wohnung raus. Aber dort verläuft eine Bahnlinie. Das ist riskant. Gratz stellt der Frau ihre Brüder zu Seite: „Ihr lasst eure Schwester nicht aus den Augen, begleitet sie bei jedem Schritt“, schärft er ihnen ein. Erst dann kann er sich um die Großmutter kümmern. Die Einsatzkräfte haben dadurch den Rücken frei.
Deutlich mehr als 200 Einsätzen pro Jahr hat die Notfallseelsorge im Kreis Ludwigsburg. 229 waren es im vergangenen Jahr. 50 Frauen und 52 Männer leisten diesen Dienst. Ein Drittel davon sind Pfarrer, Diakone oder Pastoralreferenten, zwei Drittel sind Ehrenamtliche aus den Kirchen, der Feuerwehr, der Polizei, des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) oder der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft (DLRG). Aber auch Menschen, die keiner dieser Organisationen angehören, die einfach von der Notfallseelsorge gehört haben, können sich ausbilden lassen. Nachwuchs ist immer gefragt. „Denn wir haben eine nennenswerte Fluktuation durch Wegzug, Familienplanung und aus Altersgründen“, sagt Ulrich Gratz.
Bevor die Eltern zu ihrem Kind können, klärt der Notfallseelsorger, ob sie den Säugling berühren dürfen. „Das ist nicht immer der Fall, unter Umständen muss das Kind ja noch auf Fingerabdrücke untersucht werden.“ Dieses Mal aber ist das nicht nötig. Und das ist gut für einen würdigen Abschied.
Die Angehörigen versammeln sich um das Kind, das jetzt in eine hübsche Decke gewickelt ist. Gratz zündet eine Kerze an, spricht einen Sterbesegen. Nach und nach dürfen die Angehörigen den Säugling noch einmal auf den Arm nehmen, ihm sagen, was er ihnen bedeutet hat, …
„Das ist sehr wichtig für den Trauerprozess“, betont Gratz. „Es sollen nicht nur die chaotischen Bilder in den Köpfen bleiben. Die Angehörigen brauchen auch Bilder, an denen sie sich festhalten können.“
Die Notfallseelsorge ist Teil der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV), die sich aus allen Rettungsdiensten und den Kirche zusammensetzt. Insgesamt dürften sind in Bande-Württemberg etwa 1.800 PSNVler im Einsatz, darunter etwa 1.000 Notfallseelsorgerinnen und –seelsorger. Vorsichtig geschätzt dürften darunter etwa 700 Geistliche beider großen Kirchen sein.
Wenn der Bestatter mit dem Kind geht, ist die Arbeit des Notfallseelsorgers nicht vorbei. Pfarrer Gratz bleibt noch bei Mutter und Großmutter, knüpft Kontakte zur Elterninitiative „Plötzlicher Kindstod“, vermittelt eine Therapeutin, für den Fall, dass später eine weitere Begleitung gewünscht und nötig wird.
„Notfallseelsorge gehört für mich persönlich zur DNA des Christentums“, sagt die Stuttgarter Prälatin Gabriele Arnold. „Die Notfallseelsorge sei für Menschen in Krisensituationen so etwas wie erste Hilfe für die Seele. Und zwar unabhängig von Religion und Weltanschauung.“ Sie wird auch am Sonntag, 15. September dabei sein, wenn die Notfallseelsorge im Kreis Ludwigsburg ihr 20-jähriges Bestehen feiert.
Autor: Stephan Braun