Die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen Ende Mai war hoch – doch die Probleme könnten gerade deshalb noch größer werden.
Es war eine auf den ersten Blick durchaus überraschende Erkenntnis bei der Podiumsdiskussion „Europa hat gewählt – Analysen und Perspektiven“ im Stuttgarter Hospitalhof: Ausgerechnet die außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung in den meisten EU-Staaten könnte der ohnehin tief gespaltenen Europäischen Union die nächste existenzielle Krise bescheren. Zwei Stunden lang ging's am Mittwoch, 5. Juni, um die Frage, welche Chancen und Risiken das Wahlergebnis vom 26. Mai für Europa und seine Bürger mit sich bringt.
Vor allem die Risiken standen im Fokus: Wenn nämlich die von vielen Wählern mit ihrer Stimmabgabe eingeforderten Veränderungen im Geflecht von EU-Parlament, EU-Rat und EU-Kommission nur im Schneckentempo vorankommen, dürfte dies weitere Munition sein – für Nationalisten und Populisten. Der Freiburger Politik-Professor Ulrich Eith warnte denn auch vor der schlimmsten denkbaren Entwicklung: „Man kann Demokratie auch wieder verlieren!“
Der württembergische Landesbischof Dr. h. c. Frank Otfried July war sich der heiklen Lage Europas ebenfalls bewusst – zumal in einigen EU-Staaten Nationalisten ganz offen auch auf die religiöse Karte setzen. „Religion kann ein Brandbeschleuniger sein“, konstatierte der Bischof, der sich vor diesem Hintergrund auch für eine interkonfessionelle europäische Synode einsetzte – er nannte es ein „Gegen-Netzwerk“ zu den europaweiten Geflechten jener Kräfte, die eine pluralistisches und offene EU am liebsten abschaffen würden.
Hier sieht July die Kirche in der Pflicht, entgegenzuwirken und „Gemeinsamkeit zu stiften“. Dies aber setze „Gespräche und Begegnungen“ über staatliche und kirchliche Grenzen hinweg voraus. Und July versprach auch als Vorsitzender des Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes: „Ich werde meinen Beitrag leisten“, damit Kirche durch Dialog zu den von ihm beschworenen Gemeinsamkeiten beiträgt.
Überhaupt die Kommunikation: Sie ist nach Überzeugung aller Podiumsteilnehmer das große Problem in der Gesellschaft. „Wir verlieren im Moment die Fähigkeit, kontroverse Diskussionen aushalten zu können“, konstatierte Politologe Eith und stellte eine Frage, die ihm an diesem Abend niemand beantworten konnte: „Wie kriegen wir es hin, mit Respekt und Toleranz auszuhalten, dass jemand eine andere Meinung hat?“
Dabei haben nach Beobachtung von Tanja Zöllner von der EU-freundlichen Initiative „Pulse of Europa“ selbst uralte Kommunikationswege allmählich ausgedient: „Am Küchentisch wird’s stiller.“ Stattdessen verlagern sich Debatten zunehmend in die sozialen Netzwerke – doch da bestehe die Gefahr, „dass man in einer Blase steckt und dies nicht hinterfragt“.
So beschrieb sie einen weiteren möglichen Grund, warum bei den EU-Wahlen Populisten und Extremisten in immerhin vier Mitgliedsstaaten zur stärksten politischen Kraft aufsteigen konnten.
Patentrezepte dafür, wie ein weiteres politisches Auseinanderdriften der EU am wirksamsten verhindert werden kann, gab es im Hospitalhof übrigens nicht. Stattdessen mehrfach den Appell, der europäischen Demokratie trotz ihrer langsamen Entscheidungsprozesse die Treue zu halten.
Politikprofessor Eith zitierte dafür den österreichisch-britischen Philosophen Karl Popper: „Demokratie ist die einzige Gesellschaftsform, in der man Herrschende ohne Blutvergießen beseitigen und deren Fehler korrigieren kann.“
Einig waren sich Eith, July und Zöllner übrigens in der Beurteilung eines „Fehlers“ der EU - des nationalen „Flickenteppichs“. So mahnte der Bischof: „Für eine handlungsfähigere EU müssen die Staaten bereit sein, auf einen Teil ihrer nationalen Souveränitätsrechte zu verzichten" - nannte als Beispiele die Verteidigungs- und die Außenpolitik.
Veranstalter der Podiumsdiskussion im Hospitalhof waren die beiden FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung und die Reinhold Maier-Stiftung Baden-Württemberg, die Aktion „Europe direct“ Stuttgart und das Europa-Zentrum Baden-Württemberg. Moderiert wurde der Abend von SWR-Redakteurin Verena Neuhausen.