Stuttgart/Leipzig. Die friedliche Revolution in der DDR und der Mauerfall - 2019 jährt sich das Überwinden der deutschen Teilung zum 30. Mal. elk-wue.de beginnt aus diesem Anlass eine Serie über Persönlichkeiten, die Württemberg verbunden sind - aber auch die „andere" Seite erlebt haben. So wie Ilse Junkermann, die zwischen 2009 und 2019 Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland war und nun die Geschichte der Kirche in der DDR erforscht.
Ihr Bischofskreuz hat sie im Juli bei ihrer Verabschiedung im Magdeburger Dom ablegen müssen. Ein Kreuz trägt Ilse Junkermann aber noch immer, genauso sichtbar wie selbstverständlich: Es ist kleiner, elfenbeinfarben statt groß und golden - es aber nur als Schmuckanhänger zu bezeichnen, wäre unpassend.
Denn eines wird im Gespräch mit der 62-jährigen Theologin schnell deutlich: Ein Kreuz zu zeigen, ist für sie mehr als das Bekenntnis ihres Glaubens. Es ist im übertragenen Sinne auch ihr Anspruch an die evangelische Kirche: Stellung zu beziehen „zu den Grundfragen unserer Zeit“, sich stark zu machen gegen Ungerechtigkeiten.
Ilse Junkermann trägt zwar nicht mehr die Insignien der ersten Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland - die Aufgabe aber hat sich für die gebürtige Württembergerin im Grunde nicht geändert: „Ich habe mich immer als Brückenbauerin zwischen der Kirche im Osten und der im Westen verstanden." Zehn Jahre lang als Bischöfin der damals aus der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen und der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen gebildeten „neuen“ Landeskirche - und seit September als Inhaberin der neu geschaffenen Forschungsstelle „Kirchliche Praxis in der DDR“ an der Universität Leipzig.
Ihr aktueller Arbeitsplatz an einem Flur-Ende der Theologischen Fakultät in Leipzig ist nur provisorisch, Schreibtisch und Rechner hat sie gebraucht übernommen. Für Ilse Junkermann sind das Nebensächlichkeiten. Ihr geht es um etwas ganz anderes: „Ich bin noch immer neugierig.“
So wie 2009, als die damalige württembergische Pfarrerin und Oberkirchenrätin den Sprung gewagt hat in den Osten, der damals immerhin schon fast 20 Jahre lang fester Bestandteil des geeinten Deutschlands war. „Mir war präsent, dass die Kirche dort sowohl theologisch wie praktisch eine andere Entwicklung genommen hat.“ Aber gerade diese Notwendigkeit, „Kirche anders zu denken, hat mich angezogen."
Hatte sie in Württemberg eine tief verwurzelte Volkskirche erlebt, war die Situation an ihrer neuen Wirkungsstätte eine ganz andere: Kirche war und ist Minderheit. Wer sich zu DDR-Zeiten zum christlichen Glauben bekannte, musste sich auf Repressalien einstellen.
Deshalb seien die Kirchen im selbsternannten Arbeiter- und Bauernstaat theologisch stärker durch die Barmer Erklärung geprägt gewesen als jene im Westen: 1934 setzte die sogenannte Barmer Bekenntnissynode den Nationalsozialisten ein klares Nein entgegen - Christen sollten ausschließlich Jesus Christus vertrauen und ihm folgen. Und keinen anderen Mächten der Gegenwart.
Als der braunen dann die rote Diktatur folgte, gab es für die meisten Kirchen im Osten überhaupt keinen Grund, von der Barmer Erklärung abzuweichen. Die Folgen beschreibt Ilse Junkermann so: Einerseits habe es gerade in den 1950er Jahren regelrechte Christenverfolgungen gegeben - andererseits „war die Kirche der einzige Raum der Freiheit, der nicht komplett unterwandert war".
Und doch ist ihr wichtig, weder die DDR noch die Kirche „bloß auf die Stasi zu reduzieren“. Deshalb freue sie sich darauf, nun mit ihrer Forschungsstelle an einem differenzierteren Bild mitarbeiten zu können - Altes zu erfahren und dadurch zu Neuem werden zu lassen. „Das ist eine große Herausforderung."
Sie sagt es mit strahlenden Augen - die Theologin will die Jahre bis zu ihrem Ruhestand nicht einfach überbrücken. Sie macht sich mit Elan ans Forschungswerk.
So weiß Ilse Junkermann bereits von jungen, überzeugten Christen zu berichten, die sich in tiefen DDR-Zeiten freiwillig zur Nationalen Volksarmee gemeldet haben. Und zwar nicht, um den Sozialismus an der Seite der sowjetischen „Waffenbrüder“ zu verteidigen. Sondern um gewissermaßen als „Untergrund-Seelsorger“ jenen Männern beizustehen, die als Wehrpflichtige dem oftmals schikanösen Armee-Alltag ausgeliefert waren.
Ilse Junkermann hat sich zur Aufgabe gemacht, dass solche Facetten kirchlichen Wirkens nicht vergessen werden: „Solche Schätze zu heben und zum Glänzen zu bringen" sei nun ihr Ziel, sagt sie - und wieder huscht ein Strahlen über ihr Gesicht. Es sei eben „eine andere Form der Seelsorge“, die sie nun betreibe und damit Wissen bewahre, das 30 Jahre nach dem Mauerfall allmählich wegzusterben droht.
Es ist die bislang letzte Weiterentwicklung jener Theologin, die 1957 im hohenlohischen Dörzbach zur Welt kam, in Tübingen und Göttingen studierte und als Pfarrerin in Horb und Stuttgart wirkte. Auch als sie 1997 als Oberkirchenrätin zuständig für den Pfarrdienst und später auch für die theologische Ausbildung in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg wurde, deutete zumindest für Außenstehende nichts auf ihre spätere Rolle als Brückenbauerin zwischen Ost und West.
Aber die Partnerschaft zwischen der württembergischen und der damaligen thüringischen Landeskirche sowie gemeinsame Kurse in Predigerseminaren waren für Ilse Junkermann schließlich die ganz persönlichen Brücken in den so lange vom Westen abgeschotteten Teil Deutschlands. Als sie sich 2009 der Bischofswahl stellte und diese gewann, war Deutschland zwar schon lange wieder eins. Aber „ihre“ mitteldeutsche Kirche war gerade erst gegründet - und noch längst nicht geeint.
Ilse Junkermann merkte schnell: In der Mitte Deutschlands muss zusammenwachsen, was nicht zwingend zusammengehört. Also machte sie sich auch hier daran, Brücken zu bauen zwischen den beiden nun fusionierten Ost-Kirchen.
Thüringen und Sachsen-Anhalt - da gibt's trotz der räumlichen Nähe nicht nur völlig andere Kirchen-Traditionen, sondern auch deutliche Mentalitätsunterschiede: Eher herzlich-leutselig sei ihre Begrüßung in Thüringen gewesen, erinnert sich die 62-Jährige. Distanziert bis spröde hingegen ihre Aufnahme in Magdeburg, dem offiziellen Bischofssitz.
Doch eines einte die so verschiedenen Landeskirchen-Teile von Anfang an: die Diaspora.
Nach Daten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gehörten im Jahr 2017 nur noch 21,4 Prozent der Thüringer der evangelischen Kirche an. Noch gravierender ist die Entwicklung im „Heimatland“ der Reformation: Laut EKD macht der protestantische Anteil an der Bevölkerung Sachsen-Anhalts gerade noch 12,2 Prozent aus - so niedrig ist er in keinem anderen Bundesland.
„Die Menschen haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben“, beschreibt Ilse Junkermann die Situation in der Mitte Deutschlands. Der staatliche Druck gerade in der Anfangszeit der DDR habe „ganze Arbeit“ geleistet - sie nennt den Rückgang von einst 86 Prozent kirchlicher Zugehörigkeit einen „Abbruch".
Doch auch die Kirche trage Verantwortung: In ihrer Zeit als Bischöfin hat sie von mehreren Fällen erfahren, in denen vor 1989 „die Kirchenleitung Gemeindeglieder im Stich gelassen hat“ - etwa, als der hochschwangeren Frau eines inhaftierten Theologen unter fadenscheinigen Gründen die Wohnung in einem ehemaligen Pfarrhaus gekündigt wurde.
Und als sich nach der Wende herausstellte, dass zu DDR-Zeiten der leitende Jurist in beinahe jeder Landeskirche Stasi-Mitarbeiter gewesen sei, habe dies „kaum neues Vertrauen und Interesse“ an der Institution Kirche wachsen lassen.
Trotzdem hat Ilse Junkermann in ihrer zehnjährigen Zeit als Landesbischöfin so viel Engagement der vergleichsweise wenigen Gläubigen erlebt, dass sie von der Zukunft der Kirche im Osten überzeugt ist: „Aus der Not heraus kann reiche Frucht wachsen.“
So erinnert sie sich an eine nur etwa 60 Mitglieder zählenden Kirchengemeinde nördlich von Magdeburg: In Eigenleistung habe sie in einem 120-Einwohner-Dorf eine verfallene Kirche wieder aufgebaut.
Für Ilse Junkermann war es selbstverständlich, diese Gemeinde zur Einweihung zu besuchen - einerseits, um ihre Wertschätzung auszudrücken. Andererseits aber sei sie durch solche Besuche und die Begegnung mit derart „engagierten Christen selbst unglaublich gestärkt“ worden.
Wäre es nach ihrer eigenen Lebensplanung gegangen, dann wäre Ilse Junkermann noch immer Bischöfin - und zu den Menschen unterwegs: Mehr als 60.000 Kilometer im Jahr sei sie gefahren, um vor Ort in den Gemeinden zu sein. Dennoch hat Ende 2017 der Landeskirchenrat die Bitte der damals 60-Jährigen abgelehnt, ihre 2019 regulär endende Amtszeit bis zum Erreichen des Ruhestandsalters zu verlängern. „Diese Entscheidung tat mir weh“, räumt Ilse Junkermann unumwunden ein, „der Schluss war nicht leicht zu verkraften".
Trotzdem zieht sie eine für sie positive Bilanz. Es sei eine „beglückende Erfahrung, den Weg einer ,anderen' Kirche mitgegangen zu sein und nicht einfach etwas fortzuschreiben".
Dass ihr Kurs als Bischöfin richtig war, daran hat sie keinen Zweifel: Zur kirchlichen Aufgabe gehöre nämlich auch, mit den ehemaligen (Stasi-)Tätern zu sprechen - „auch wenn es weh tut“. Schließlich sind „wir als Christen zur Versöhnung aufgerufen“. Angesichts manch „schlimmster Zersetzung“, der Verfolgte des DDR-Regimes ausgesetzt waren, sei dies aus deren Sicht zwar „eine Zumutung und kein Zuckerschlecken“. Aber, so beharrt die Theologin: „Man muss miteinander sprechen. Die Sprachlosigkeit zu überwinden, ist eine wichtige Aufgabe."
Dies gelte nicht nur für die gesamte Gesellschaft, sondern sei „zuerst auch innerhalb der Kirche“ nötig, „in der noch manche Verletzung und Schuld unausgesprochen ist“.
Mit dieser Haltung ist Ilse Junkermann angeeckt. Dialog und sogar Versöhnung mit Stasi-Tätern? Das war selbst 20 Jahre nach Ende der DDR eine für viele Kirchenobere zu aufgeschlossene Haltung.
Als beispielsweise 1989 der Greifswalder Bischof Horst Gienke als Stasi-Mitarbeiter aufflog, wetterte der damalige Superintendent in der 30 Kilometer entfernten Kreisstadt Anklam, Klaus Bresgott: „Möge Gott seiner Seele gnädig sein - Vergebung hat er auf Erden nicht zu erwarten."
Ja, wiederholt Ilse Junkermann, ihr Aufruf zur Bitte um Versöhnung sei „eine Zumutung“. Aber „je länger es her ist, desto mehr Möglichkeiten gibt es, darüber zu sprechen“.
Immerhin gehörte Gienke 2014 zu den Gästen beim offiziellen Empfang zum 60. Geburtstag des damaligen pommerschen Bischofs Hans-Jürgen Abromeit - wie Junkermann kam auch er aus dem Westen.
Unterdessen fühlt sich Ilse Junkermann schon nach wenigen Wochen in Leipzig wohl: „Die Leute sind so freundlich hier.“ In jener Stadt, in der die friedliche Revolution vor 30 Jahren ihren Anfang nahm - und in der Friedensgebete in überfüllten Kirchen einen großen Anteil daran hatten, die Angst und schließlich das SED-Regime zu überwinden.
Doch die Rolle der Kirche sei vielen gar nicht mehr bewusst: Die Leipziger hätten zwar verinnerlicht, dass ihre Stadt Ausgangspunkt der Proteste war. Dass aber die Nikolaikirche und ihre Gemeinde im Zentrum stand, sei in der öffentlichen Wahrnehmung praktisch verdrängt.
Dennoch sieht sie für die Kirche im Osten keinen Grund zur Resignation: In den meisten Kirchenbauvereinen etwa seien kirchlich ungebundene Mitglieder in der Mehrzahl - einfach deshalb, weil sie die „Kirche im Dorf lassen“ wollen und sie als kulturellen Mittelpunkt anerkennen.
Außerdem hat Ilse Junkermann in vielen ihrer Begegnungen bemerkt: „Viele Leute wollen zur Kirche dazugehören“, ohne aber gleich (zahlendes) Mitglied zu sein. „Die Leute singen im Gospelchor ,Jesus is my Saviour'" - doch gehören viele Sängerinnen und Sänger zur offiziell atheistischen Mehrheit.
Diese Umgebung hat Ilse Junkermann verändert: Sie sei in Mitteldeutschland „frommer geworden“: Die Kirche in Mitteldeutschland empfinde sie als „geschwisterlicher“ als die Evangelische Landeskirche in Württemberg mit ihren synodalen und teilweise kontroversen Gesprächskreisen. In theologischen Fragen sei man in Mitteldeutschland freier - ohne das Risiko, gleich einem bestimmten Gesprächskreis zugeordnet zu werden. Deshalb sei man „geistlich enger miteinander unterwegs".
Siegfried Denzel