Als in Nazideutschland die systematische Deportationen jüdischer Einwohnerinnen und Einwohner begannen, deren im November immer wieder gedacht wird, entstand in Württemberg eine so genannte Pfarrhauskette. Ihr Ziel war es, Menschen jüdischen Glaubens, aber auch anderen, auf der Flucht zu helfen. Kirchenrat Dr. Joachim Hahn erinnert daran:
1940/41 begannen überall in Deutschland die systematischen Deportationen der im Land noch lebenden jüdischen Einwohner. Deutschland sollte möglichst schnell „judenfrei“ werden. Einigen hundert jüdischen Personen gelang es, den drohenden Verhaftungen zu entkommen. Sie lebten versteckt oder waren innerhalb Deutschland ständig auf der Flucht in Deutschland. Sie bekamen da und dort Hilfe von einzelnen Menschen oder Familien, die sich freilich dadurch selbst in größte Lebensgefahr brachten.
Kirchenrat Dr. Joachim Hahn ist Pfarrer und Autor etlicher Publikationen zur Geschichte der Juden in Südwestdeutschland. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Obermayer German Jewish History Award ausgezeichnet. Für seine Verdienste um den Christlich-jüdischen Dialog erhielt er die Otto-Hirsch-Medaille.
Viele Pfarrer der Kette gehörten der Bekennenden Kirche an
In Württemberg entstand in dieser Zeit die Württembergische Pfarrhauskette — mit dem Ziel, jüdischen und anderen verfolgten Personen auf der Flucht zu helfen. Ihre Mitglieder waren Pfarrer sowie Pfarrfrauen, deren Männer oft im Krieg eingezogen waren, aber auch andere kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und weitere Personen. Sie standen untereinander in Kontakt und tauschten dabei verschlüsselte Botschaften aus. Viele der Pfarrer waren Mitglieder der Bekennenden Kirche oder standen ihr zumindest nahe.
Organisiert wurde die Pfarrhauskette 1943 bis 1945 vor allem von Pfarrer Theodor Dipper in Reichenbach an der Fils. Er selbst war bereits im KZ Welzheim inhaftiert gewesen und seit 1937 mit einem Redeverbot belegt.
Bekannte Vertreter der Pfarrhauskette waren die Pfarrer Eugen Stöffler (Köngen), Richard Gölz (Wankheim), Otto Mörike (Flacht) wie auch die Pfarrfrauen Elisabeth Goes (Ehefrau von Pfarrer Albrecht Goes in Gebersheim), Hildegard Spieth (Ehefrau von Pfarrer Helmut Spieth in Stetten im Remstal) sowie zahlreiche weitere Menschen. Viele von ihnen wurden nach dem Krieg für ihren Einsatz ausgezeichnet, teilweise von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem zu „Gerechten unter den Völkern“ ernannt.
Befreiung nach 27 Monaten in 66 Häusern
Unter den durch die württembergische Pfarrhauskette Geretteten war das jüdische Ehepaar Karoline und Max Krakauer. Es war im Januar 1943 der Deportation in Berlin entkommen und konnte durch Vermittlung von Berliner Pfarrern zunächst in Brandenburg und Pommern, ab August 1943 dann in Württemberg versteckt leben. Die beiden wurden als nichtjüdische Bombengeschädigte Hans und Grete Ackermann aus Berlin ausgegeben. Dennoch waren sie immer wieder der Entdeckung nahe, da mehrere der Pfarrhäuser unter ständiger Beobachtung durch die Gestapo standen.
Als wichtigstes literarisches Zeugnis zur württembergischen Pfarrhauskette gilt das erstmals 1947 erschienene und seitdem mehrfach aufgelegte Buch von Max Krakauer: „Lichter im Dunkel. Flucht und Rettung eines jüdischen Ehepaares im Dritten Reich“ im Calwer Verlag.
So mussten Karoline und Max Krakauer immer wieder an neuen Orten untergebracht werden. Verstecke gab es in Pfarrhäusern, in Kirchen oder in Privathäusern. Mitglieder der Gemeinden halfen heimlich mit Lebensmitteln oder stellten Lebensmittelkarten zur Verfügung. Nach 27 Monaten in 66 verschiedenen Häusern kam schließlich der Tag der Befreiung durch amerikanische Truppen in Stetten im Remstal.
Karoline und Max Krakauer lebten nach dem Krieg in Stuttgart. Außer ihnen sind die Namen von weiteren 17 bekannt, die durch die Hilfe der Württembergischen Pfarrhauskette die NS-Zeit überlebt haben.
Joachim Hahn