„Mut verbindet“. Das ist das Motto dieses Tages heute: Wir feiern die Deutsche Einheit zum 29. Mal mit einem Fest. Seit dem 3. Oktober 1990 leben wir in einem geeinten Land von Schleswig-Holstein bis Bayern und Baden-Württemberg, vom Saarland bis Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern.
Keine Grenze mehr und keine Flüchtlinge, die ihr Leben riskieren. Keine Pakete mehr nach „drüben“, kein Heimweh mehr von Menschen nach Chemnitz, Magdeburg oder Schwerin, wo sie einmal zu Hause waren. Keine Sehnsucht mehr von Menschen, die nicht nach Italien, nach Paris oder in die Alpen reisen dürfen. Seit 29 Jahren leben wir miteinander in der Bundesrepublik, in Freiheit und immer noch wachsendem Wohlstand und Frieden.
Das alles verdanken wir dem Mut von zunächst einigen wenigen Menschen, die schon ein Jahr davor gesagt hatten: Schluss damit. Wir wollen das Unrecht nicht mehr hinnehmen und die Willkür, mit der man uns voneinander trennt. Wir wollen frei leben und selbst entscheiden können, wohin wir gehen, wo wir wohnen und wie wir leben. So fing es an. Mit Demonstrationen und Massenflucht. Damals war noch ganz unklar, wohin die Entwicklung gehen würde. Ob man die Proteste mit Gewalt niederschlagen, oder ob es einen neuen Staat geben und wie das Leben dann werden würde. So ist das ja immer, wenn etwas Neues beginnt. Man braucht Mut. Und viele machen sich Sorgen.
In jener unsicheren Zeit hat der Jenaer Pfarrer Klaus Peter Hertzsch für die Hochzeit seines Patenkindes ein Lied gedichtet. Man kann es auf die Melodie eines bekannten Kirchenliedes singen. Er wollte die jungen Menschen bestärken, die den Mut hatten in so unruhiger Zeit zu heiraten und eine Familie zu gründen. Sein Lied singen Christen bis heute. Es heißt: „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist. Weil Leben heißt sich regen, weil Leben wandern heißt. Seit leuchtend Gottes Bogen am hohen Himmel stand, sind Menschen ausgezogen in das gelobte Land.“ (Ev. Gesangbuch Nr. 395)
Damals vor 30 Jahren haben viele Menschen den neuen Wegen vertraut – obwohl niemand genau wissen konnte, wohin es geht. Sie hatten Mut. Ihr Mut hat sie verbunden. Am Ende hat er uns alle in einem vereinten Deutschland verbunden. Seither leben wir in Verhältnissen, um die uns fast die ganze Welt beneidet.
Aber wir haben seither auch erlebt: Mut kann verloren gehen. Es gibt Durststrecken auf dem Weg in die Zukunft, vor allem, wenn es länger dauert, als man erwartet hat. Wenn Menschen auf dem gemeinsamen Weg von anderen übervorteilt werden. Oder wenn nur manche gut vorankommen und andere nicht so schnell mitkommen und sich irgendwann abgehängt fühlen. Dann geht der Mut verloren. Dann kommen Unzufriedenheit und Wut.
Ich glaube, das gilt nicht nur für solche Umbruchsituationen wie damals, als aus zwei Staaten einer wurde. Das Leben geht immer weiter. Leben heißt wandern. Stehen bleiben kann man nicht. Man kann nicht irgendwann sagen: „Jetzt reicht es aber. Jetzt habe ich genug getan“. Man kann auch nicht sagen: Jetzt soll bitte die Zeit stillstehen und alles so bleiben, wie es ist. Oder wieder so werden, wie es früher war. Das geht im Privatleben nicht. Und in einem Land auch nicht.
Es gibt immer neue Herausforderungen: Das Leben verändert sich. Und wer stehen bleibt oder sich gar die Vergangenheit zurückwünscht, der bleibt irgendwann enttäuscht und unzufrieden zurück.
Ich glaube, so ist das auch mit unserem Land. Auch da gibt es immer neue Herausforderungen. Inzwischen nicht mehr nur die Einheit und das, was da noch zu tun ist, damit es gleiche Lebensverhältnisse gibt. Da ist auch die Sache mit dem Klima, da sind auch die Geflüchteten, die unter uns leben und ihren Platz finden müssen, es gibt besonders in den Städten Wohnungsprobleme. Ich glaube, stehen bleiben und klagen und sagen: „Das will ich aber alles nicht!“ – das geht nicht. Leben heißt wandern.
Und zum Wandern braucht man Mut. Wer keinen Mut hat, der wird die Wanderung nicht schaffen. Und wenn der Mut verloren geht beim Wandern? Wenn einem die Strecke zu lang wird? Ich glaube, dann hilft es, sich umzuschauen. Wir leben in einem großartigen Land. Wir leben in Frieden. Es gibt Arbeitsplätze mehr als genug. Man wird sie nur besser im Land verteilen müssen. Es gibt Möglichkeiten die Umwelt zu schützen und der Klimaerwärmung etwas entgegen zu setzen. Wo, wenn nicht in unserem Land mit seinen technischen und wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten und dem Erfindungsreichtum der Menschen könnte man daran arbeiten?
Ich denke manchmal: Damals, 1989 haben sie viel Mut gehabt und wenig Möglichkeiten. Und haben so viel geschafft. Heute haben wir viel mehr Möglichkeiten. Was uns fehlt, scheint mir, ist der Mut. Mut, der verbindet. Mut, uns wieder auf den Weg zu machen. Vielleicht können wir uns gegenseitig ermutigen. Die Ostler die Westler, die Wessis die Ossis. Vielleicht können wir die Lasten besser verteilen. Damit auch die wieder Mut fassen, denen der Weg zu lang wird.
Dazu segne Gott unser Land.
Rundfunkpfarrerin Lucie Panzer
Gesendet am 3. Oktober 2019 auf SWR4