Stuttgart. Als Franz-Josef Schneider morgens losging, da ahnte er noch nichts. Und plötzlich gibt es ihn ein zweites Mal. Mit verschmitztem Lächeln blickt sein Orginal in die Runde. Stolz sitzt sein Ebenbild neben ihm. Kein Wunder. Wer würde nicht gerne auch mal den Kopf hinhalten, um für die Ewigkeit, oder zumindest für eine ganze Weile, der Menschheit erhalten zu bleiben?
„Jetzt höre ich auf, sonst wird es zu viel“, sagt Harald Birck und legt den Pinsel beiseite. Noch ein kritischer Blick, dann beginnt er, sein Werkzeug zusammen zu räumen. Heute Morgen hat der Berliner Künstler sein Werk begonnen, und nun, kurz bevor der Vesperkirchentag mit der täglichen Andacht beschlossen wird, blickt also Herr Schneider vom Podest in den Kirchenraum.
Auch Heribert Prantl und Olaf Scholz saßen schon Modell
Harald Birck porträtiert bereits seit über zehn Jahren Obdachlose und andere Menschen in prekären Situationen. 2006 hat er einen Pfarrer kennengelernt, der bei der Berliner Stadtmission arbeitete. Dieser brachte ihn schließlich dazu, den Versuch mit Obdachlosen zu wagen. „Alfred war der erste Kopf“, erinnert er sich. Nach Alfred folgten bald schon weitere. 2008 dann eine Ausstellung im Arbeitsministerium, die Serie „Auf Augenhöhe“ war geboren, bei der Prominente wie Heribert Prantl und Olaf Scholz Modell saßen, um dem Projekt zu Renommee zu verhelfen.
„Jeder Mensch kann fallen“
Schließlich folgte Jürgen. Ihn hat er auch in die Vesperkirche mitgebracht. Als Anschauungsobjekt – und als Begleiter – thront das Porträt auf einem weiteren Podest. Dank Jürgen ist Harald Birck tief eingestiegen in die Lebenswelt von Obdachlosen. „Wir wurden Freunde. Ich habe mindestens 18 Köpfe von ihm gemacht“, erzählt er.
Und warum überhaupt Obdachlose? Näher könne man am menschlichen Dasein nicht sein. Jeder Mensch könne fallen. Mit seinen Köpfen könne er die Ordnung auf den Kopf stellen. „Ich kann jemanden in den Mittelpunkt rücken und auf das Podest heben, der da sonst keinen Platz hat“, sagt der Künstler.
Bei einer Veranstaltung in Stuttgart wurde Diakoniepfarrerin Gabriele Ehrmann auf ihn und seine ausdrucksstarken Köpfe aufmerksam. So entstand die Idee, ihn in die Vesperkirche einzuladen, um zwei Vesperkirchengäste zu porträtieren. Heute war es also Franz-Josef Schneider
„Heute Morgen kam Frau Ehrmann auf mich zu und fragte mich, ob ich nicht Modell sein wolle. Da habe ich zugesagt“, erklärt der 63-Jährige und strahlt über das ganze markante Gesicht, in dem die beiden Wangengrübchen knitz zum Vorschein kommen, sobald Franz-Josef Schneider zu lächeln beginnt. Da er das oft macht, kann man diese Grübchen sehr häufig bewundern.
Großes Interesse
Wer Modell sein will, der braucht Ausdauer – auch wenn Harald Birck in wahrhaft beeindruckender Geschwindigkeit arbeiten kann. Aber insgesamt vier Stunden Stillsitzen kamen dann schon zusammen. „Wir haben miteinander geschwätzt, und dazwischen gab es dann immer wieder eine Pause“, erzählt Franz-Josef Schneider.
Im Rahmen des Abschlussgottesdienstes der Vesperkirche Stuttgart, am 7. März um 16 Uhr, werden die modellierten Köpfe vorgestellt. Der zweite Kopf kann käuflich erworben werden.
Dass ein Künstler quasi live arbeitet und sein Atelier in die Kirche verlegt, kommt ja nicht gerade alle Tage vor.
Großes Interesse
Dementsprechend groß war das Interesse. „Wir bekamen massenhaft Besuch, aber das soll ja auch so sein. Die Leute sollen ja auch was mitnehmen“, sagt der Künstler. Und je mehr der Kopf auf dem Podest an Kontur gewann, mit jeder Schicht Ton, mit jedem Streichen und Formen, mit jedem Pinselstrich, desto mehr gab es Zuspruch und Anerkennung. „Ich habe die Figur gesehen, und ich sah sofort, das ist der Franz“, sagt Georg Schiek, als er nach dem Ende seines ehrenamtlichen Einsatzes noch einmal im Chorraum an den tönernen Kopf herantritt.
Ein Kopf darf bleiben
Franz-Josef Schneider, das glückliche Modell, kommt schon seit mehreren Jahren regelmäßig in die Vesperkirche. In diesem Jahr half er auch mit im hauswirtschaftlichen Bereich. Für ihn eine leichte Übung, hat er doch mehr als 25 Jahre lang im Haus Birkach in der Küche gearbeitet. Nun ist er Rentner, aus gesundheitlichen Gründen ging es nicht mehr mit dem Arbeiten. Umso mehr freut er sich, wenn er mal in der Vesperkirche mitanpacken kann. „Das könnte ruhig öfter sein“, sagt er und lächelt bedächtig.
Einer der beiden Köpfe, die an den zwei Tagen entstehen, soll in der Leonhardskirche eine dauerhafte Bleibe finden. Natürlich hofft Franz-Josef Schneider, dass die Wahl auf seinen Kopf fällt. Die Chancen stehen nicht ganz schlecht. Gabriele Ehrmann ist sehr begeistert von dem tönernen Kunstwerk. Und auch der Künstler ist zufrieden. „Dass ein Kunstwerk gelungen ist, erkennt man daran, dass man es immer wieder angucken will. Der Kopf hier, der wird nie alt - Sie werden nie alt!“, ruft er schmunzelnd seinem Modell zu. Und Franz-Josef Schneider, am heutigen Tag wahrscheinlich der glücklichste Mensch in der Vesperkirche, strahlt über das ganze Gesicht. Da sind sie wieder, die Wangengrübchen.
Harald Birck, 1960 in Heidenheim geboren, studierte in Karlsruhe an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste und war Meisterschüler bei Professor Klaus Arnold. Seit 1991 lebt der Künstler in Berlin und Marval, Frankreich. Seine Werke waren in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen in Deutschland, Frankreich, Norwegen und im Jemen zu sehen
Text und Fotos: Monika Johna