26.06.2018

Ein Denkmal für die Opfer

Einladung zur Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus

Papierblatt nennt sich eine Website, die zur Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus einlädt, jüdischen Holocaustüberlebenden ein Denkmal setzt und im Unterricht einsetzbar ist. Thorsten Trautwein, Schuldekan für die Kirchenbezirke Calw, Nagold und Neuenbürg, hat sie didaktisch entwickelt. Gleichzeitig lädt er zu einer Veranstaltungsreihe „80 Jahre Kristallnachtserinnerung“ ein. Stephan Braun hat mit ihm gesprochen.

Thorsten Trautwein, Schuldekan für die Kirchenbezirke Calw, Nagold und Neuenbürg

Herr Trautwein, Sie laden zusammen mit anderen seit Anfang des Jahres zu Veranstaltungen ein, um an die Reichspogromnacht vor 80 Jahren zu erinnern. Was hat Sie dazu bewegt?
Angefangen hat alles mit Papierblatt.

Papierblatt?
www.papierblatt.de ist eine Website, mit der wir den jüdischen Opfern des Holocausts ein Denkmal setzen. Die Idee hatte Zedakah eine Organisation, die in Bad Liebenzell-Maisenbach ihren Sitz hat. Sie kümmert sich in Deutschland und Israel um Juden, die den Holocaust überlebt haben und lädt jedes Jahr jüdische Zeitzeugen ein, die dort ihre Lebensgeschichte erzählen. Diese Berichte werden seit ein paar Jahren per Video aufgezeichnet und Zedakah fragte mich, ob diese Videos nicht etwas für den Religionsunterricht wären.

Und, waren sie?
Die Videos wurden ursprünglich nicht für Schüler gemacht, daher haben wir ein Team gebildet, um sie für den Religionsunterricht aufzuarbeiten. Seit kurzem kann man sie auf www.papierblatt.de anschauen. Die Website soll Opfern des antisemitischen Nationalsozialismus ein Denkmal setzen. Dafür haben wir die Videoberichte in einem Onlinearchiv gesammelt und in eine digitale Lernplattform eingebunden. Sie ist frei zugänglich und wird ständig weiterentwickelt. Es gibt Zusatzmaterial und didaktische Hinweise. Die Website ist so aufgearbeitet, dass man sie im Religionsunterricht, im Geschichts- und Ethikunterricht, aber auch im Rahmen einer Projektwoche oder für eine Geschichts-AG einsetzen kann. Sie wird am 28. Juni öffentlich vorgestellt. Und weil sich in diesem Jahr die Reichprogrammnacht zum 80. Mal jährt, haben wir zusätzlich die Veranstaltungsreihe geplant.

Am Donnerstag, 28. Juni, wird Papierblatt.de ab 18 Uhr im Casino der Sparkasse Calw präsentiert.

Papierblatt ist ein ungewöhnlicher Name für eine Plattform mit Videos.
Wir haben sie nach Mordechai Papirblat benannt, einem polnischen Juden, der nach Ausschwitz deportiert wurde. Er floh, kam 1946 ins damalige Mandatsgebiet Palästina und ist der einzige Überlebende mit dem Namen Papirblat. „Mein Name ist ein Denkmal“, sagt er.

Sie laden zu Gottesdiensten und Veranstaltungen ein wie „Ich war im Todeszug aus Buchenwald“, „Rudolf Höß war der Henker von Ausschwitz. Er war mein Großvater“. Wie reagieren die Menschen auf Ihre Veranstaltungsreihe?
Manche interessiert das überhaupt nicht. Die meinen, das sei viel zu lange her. Andere fühlen sich sehr angesprochen. Ihre Reaktionen sind positiv, teilweise sehr bewegt.  Das sind Menschen, die sich durch unsere Arbeit mit ihrer eigenen Biografie konfrontiert sehen und Ehrenamtliche, die sich in ihrem Bereich etwas Vergleichbares wünschen. Außerdem sind wir durch die Arbeit mit den Lebensberichten der Opfer in Kontakt mit Nachfahren der Täter gekommen. Menschen, die hochrangige SS-Offiziere in ihrer Familie hatten, erzählen, was das für Auswirkungen auf die ganze Familie hatte. Sie fragen, warum so viel totgeschwiegen wird, warum ihre Familie so geworden ist, wie sie ist oder auch warum sie so erzogen wurden. Für manche ist das ein Lebensthema. Sie wollen ihre Familiengeschichte aufarbeiten und fühlen sich durch unsere Arbeit ermutigt und verstanden. 

Thorsten Trautwein (49) ist Schuldekan für die evangelischen Kirchenbezirke Calw, Nagold und Neuenbürg. Er hat nach dem Abitur in einem Pflegeheim von Zedakah in Maalot (Israel) gearbeitet und zwei Semester in Jerusalem studiert.

Sie wollen mit der Veranstaltungsreihe und Papierblatt auch zur Auseinandersetzung mit dem aktuellen Antisemitismus anregen.
Wir halten das auch für notwendig, angesichts des Antisemitismus im links- und rechtsextremistischen Bereich sowie im Islamismus. Das wirkt ja auch in die Schule hinein. Da verwenden Schüler Hakenkreuze und SS-Runen, das Wort „Jude“ wird zum Schimpfwort, ähnlich wie „Du Opfer“. Es wird davon geredet, dass jemand ins KZ sollte oder vergast gehört. 

Wie reagieren Sie darauf?
Ich spreche das gleich an. Manche wissen gar nicht so recht, was sie da tun oder sagen. Aber ich bin auch sehr froh, dass wir jetzt Papierblatt und die aufbereiteten Lebensberichte haben. Nun kommt das im Unterricht nicht so moralisch rüber. Da erzählen einfach Menschen, was sie erlebt haben. Und die Menschen, die die Geschichten erzählen, entstammen der Großelterngeneration der Schüler. Damit erreicht man nochmal eine andere Ebene bei Schülern - hoffen wir zumindest.

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