„Ich dachte eigentlich, das wird ein ruhiger Sommer“, sagt Dr. Martin Schairer etwas resigniert, als er an seinem Schreibtisch Platz nimmt. Friedlich wirkt das Büro des Ordnungsbürgermeisters im fast menschenleeren Stuttgarter Rathaus. Doch der Eindruck täuscht: Die Mitarbeiter der ihm unterstellten Ausländerbehörde ächzen unter massiver Personalnot. Krankmeldungen und Kündigungen häufen sich, in Kürze sollen vier von fünf Schaltern geschlossen werden. Auch in der untergeordneten Asylstelle bilden sich lange Schlangen, Entspannung ist nicht in Sicht. Da helfen nur starke Nerven – und ein Arbeitsethos, das der 62-Jährige seinem protestantischen Elternhaus zuschreibt.
„Ich wurde dazu erzogen, einmal übernommene Aufgaben auch zu Ende zu führen“, sagt Schairer. Menschenführung lernte der gebürtige Stuttgarter erstmals als Leiter einer Jungschargruppe. Dabei machte der damals 14-Jährige eine prägende Erfahrung, die die ihn sein Berufsleben hindurch begleiten sollte: dass eine Leitungsfunktion ohne Distanz zu den anderen nicht zu haben ist. „Eine gewisse Einsamkeit muss man einkalkulieren, dann kommt der Respekt von selbst“, so Schairer. Diese Distanz half ihm immer wieder, in Konflikten zu vermitteln: zunächst als Klassensprecher in den späten 60er-Jahren, als die Grenzen zwischen Schülern und Lehrern neu gezogen wurden. Und vor allem als Fachschaftssprecher der Juristischen Fakultät in Tübingen, als sich der Jurastudent zwischen kommunistischen und rechtskonservativen Gruppierungen wiederfand.
„Ich fand es schon immer spannend, zwischen den Stühlen zu sitzen“, sagt Schairer über sich selbst. Obschon fest verwurzelt in seiner christlich-konservativen Herkunft, ließ sich der angehende Jurist von der Rhetorik der linken Studentenbewegung faszinieren. „Die unglaubliche dogmatische Konsequenz, die einem so entgegengeschlagen ist von den K-Gruppen - es war spannend, da eine Abwägung und ein Weltbild zu finden“, erinnert er sich. Das eigene Denken einem – wie auch immer gearteten – Dogmatismus zu unterwerfen, war indes nicht seine Sache. Das CDU-Mitglied begegnete Meinungen und Weltbildern, wie er betont, mit „menschenfreundlicher Distanz“. „Ich war eigentlich immer in der Mitte, aus Überzeugung“, sagt Schairer, der sich selbst als liberalkonservativ definiert.
In seine Zeit als Staatsanwalt fiel auch die Strafverfolgung von Friedensaktivisten, die die Stationierung US-amerikanischer Pershing-II-Raketen in Mutlangen blockieren wollten. „Ich hatte da mit der Zeit meine Schwierigkeiten und bat darum, mich von dem Sitzungsdienst in der Anklagevertretung zu entbinden“, erinnert sich Schairer. Seiner Karriere tat dies keinen Abbruch: Er wechselte ins Justizministerium, arbeitete zunächst als Beobachter in der baden-württembergischen Landesvertretung in Bonn, dann als Pressesprecher für insgesamt drei Justizminister. 1999 wurde er Polizeipräsident der Landeshauptstadt, bevor er 2006 seine erste Amtszeit als Ordnungsbürgermeister antrat.
Große Priorität räumt der zweifache Vater der Präventionsarbeit gegen Jugendkriminalität ein. Während seiner gesamten Zeit in der Strafverfolgung, erklärt Schairer, sei er als Christ nie mit seinem Gewissen in Konflikt gekommen. Und heute, als Herr über die Asylstelle? Derzeit leben 3.885 Flüchtlinge in Stuttgart, bis Jahresende werden es rund 5.400 sein. Über die Entwicklung im kommenden Jahr will bei der Stadt noch niemand eine Prognose abgeben.
Angesichts der angespannten Lage beschwört Schairer die „hohe Integrationskraft“ seiner Stadt: „Stuttgart ist die Großstadt mit dem höchsten Migrationsanteil der Bundesrepublik. 40 Prozent der Menschen, die hier leben, haben einen Migrationshintergrund“, erläutert er. Dennoch plädiert der Ordnungsbürgermeister für die Unterscheidung zwischen „Flüchtlingen, die aus Tod, Verfolgung und Not kommen, und denen, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen“. Bei Letzteren solle das Hilfeleistungssystem überprüft werden, fordert er. Die Kräfte seiner Mitarbeiter und der örtlichen Helfer seien „nicht unendlich“, dazu komme die Wohnungsnot in Stuttgart. Und schließlich wisse niemand, wie sich die Stimmung in der Bevölkerung entwickelt, falls die Flüchtlingszahlen rasant steigen sollten.
Immerhin weiß Schairer fast den gesamten Gemeinderat grundsätzlich hinter einer Willkommenskultur für Flüchtlinge und dem so genannten „Stuttgarter Modell“: Statt in Sammelunterkünften leben sie über das Stadtgebiet verteilt in kleineren Wohneinheiten. „Der Frieden in der Stadt ist in keiner Weise gefährdet“, glaubt Schairer. Diesen inneren Frieden weiterhin zu erhalten, hat sich der 62-Jährige als großes Ziel für seine zweite Amtszeit gesetzt.
Birgit Althof