| Gesellschaft

„Die Angst ist das Schlimmste“

Ein bundesweit einmaliges Projekt will Täter und Opfer ins Gespräch bringen

In Deutschland wurden vergangenes Jahr 5,76 Millionen Straftaten begangen. Viele Opfer leiden noch lange unter den Folgen. Im Gespräch mit Tätern können sie das Geschehene bei dem Projekt „Opfer und Täter im Gespräch“ (OTG) im Seehaus Leonberg (Landkreis Böblingen) aufarbeiten und diese mit ihren Gefühlen konfrontieren.

Paolese - Fotolia.com

Der 22. Dezember 2016 hat sich in die Erinnerung von Renate G. eingebrannt. Damals hatte sie gesundheitliche Probleme und übernachtete deshalb bei ihrer Schwester. Als sie am nächsten Morgen in ihre Wohnung zurückkam, war die Terrassentür aufgebrochen und sie fand ein wildes Durcheinander vor. Die Briefumschläge mit dem Weihnachtsgeld für die Kinder und Enkel fehlten. Und auch ihr Schmuck. "Aber noch mehr als der finanzielle Verlust schmerzte mich, dass die Einbrecher mich um meine wertvollen Erinnerungsstücke brachten - und um mein Geborgenheitsgefühl", sagt die 74-Jährige.

"Besonders traurig war ich, dass die Goldkette fehlte, die mein Sohn von seinen Ersparnissen gekauft hatte", erzählt sie bei einem Treffen des Projekts "Opfer und Täter im Gespräch" (OTG), im Seehaus Leonberg (Landkreis Böblingen). In einem Stuhlkreis sitzen vier junge Männer, die im Seehaus, einem Jugendstrafvollzug in freier Form, ihre Haft absitzen. Außerdem drei weitere Frauen, die wie Renate G. Opfer einer Straftat wurden und sich bei einer der fünf Opferberatungsstellen des Seehauses Hilfe geholt haben. 

"Ich konnte in den ersten Nächten nach dem Einbruch nicht einschlafen, weil ich dachte, dass jemand im Haus ist, ja vielleicht sogar unter meinem Bett liegt", erinnert sich die Seniorin. Bis heute schlägt ihr Herz schneller, wenn es an der Tür klingelt. "Diese Angst ist auf lange Sicht das schlimmste", sagt sie. Die drei anderen Frauen nicken bestätigend. Sie wissen, wovon Renate G. redet.

"Insgesamt kommt die Gruppe sechs Mal zusammen. Bei jedem Treffen erzählt ein Opfer und anschließend ein Täter seine Geschichte", sagt Irmela Abrell. Sie ist Sozialpädagogin und Gründerin des Projektes, das seit sieben Jahren besteht und bisher einmalig in Deutschland ist. Außerdem werden Themen wie Schuldbekenntnis, Reue, Vergebung und Wiedergutmachung erarbeitet.

Nach einer kurzen Pause ist der 18-jährige Alex G. mit seiner Geschichte an der Reihe. Er hat sich freiwillig für das OTG beworben, weil er sein Leben ändern möchte. Doch nun ist ihm mulmig zumute. "Was soll ich machen, ich kann doch jetzt nicht meine Geschichte erzählen", raunt er Irmela Abrell zu. Sie ermutigt ihn und so spricht er stockend von seinem brutalen Stiefvater und dass er bereits in der Grundschule in Rumänien lernte, "dass man sich mit Gewalt durchsetzen kann".


Seehaus e.V. ist anerkannter Träger der Jugendhilfe und ist unter anderen Mitglied des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirche Württemberg e.V. und betreibt neben dem Hof-und Waldkindergarten das Seehaus Leonberg, ein Projekt im Rahmen des Jugendstrafvollzugs in freien Formen.


Als Zehnjähriger kommt er nach Deutschland, und fängt bereits in der siebten Klasse an, im Supermarkt Alkohol zu stehlen. Alex G. macht eine Pause, atmet schwer und schaut Renate E. unsicher an: "Und dann habe ich mit Hauseinbrüchen angefangen. Ich war meist für die Schlafzimmer zuständig." Kurz vor dem Abschluss der neunten Klasse beginnt er zu kiffen, rasch folgen härtere Drogen. "Deshalb brauchte ich mehr Geld". Er bricht bei einem jungen Mann ein, von dem er weiß, dass er auf Geschäftsreise ist, stiehlt Kameras, Handys und Bargeld.

Dann kommt die Automatensucht hinzu. Eines Tages verspielt er innerhalb von zwei Stunden 1.000 Euro, während neben ihm ein Mann sitzt, der haushoch gewinnt. Als dieser nach Hause geht, holt Alex G. seine Softairwaffe, verfolgt und überfällt ihn. Zehn Tage vor seinem 18. Geburtstag nimmt die Polizei ihn fest, er kommt ins Gefängnis. "Da habe ich gemerkt, es war zu viel, was ich gemacht habe", sagt er.

"Hast du dir nie überlegt, was das mit den Leuten macht, wenn du in ihr Haus einbrichst?", will eines der Opfer von Alex G. wissen. Dieser schüttelt den Kopf. "Ich habe einfach gedacht, jetzt hat der eben keine Playstation und kein Handy mehr", sagt er. Doch nachdem er Renate E.s Geschichte gehört hat, ist er betroffen. "Dass ein Einbruch so schlimm ist, hätte ich nicht gedacht".

Nur noch drei Monate und drei Tage, dann ist Alex G. wieder auf freiem Fuß. Im Seehaus, in dem er inzwischen lebt, hat er eine Ausbildung begonnen, die er nach seiner Entlassung bei einer Firma in der Umgebung fortführen kann. Das ist für Alex G. "ein Gottesgeschenk". Gerne würde er sich bei dem Mann entschuldigen, den er ausgeraubt hat und bereitet sich deshalb auf einen Opfer-Täter-Ausgleich vor.

Damit ist für Irmela Abrell, die auch gelernte Mediatorin ist, ihr Ziel erreicht. Ob das Opfer von Alex G. den jungen Mann tatsächlich treffen will, bleibt abzuwarten. Oft werde bereits ein Kontakt zu dem Opfer von dessen Anwalt abgeblockt, der eine direkte Begegnung für nicht zumutbar hält, weiß Abrell. Doch sie, die selbst schon überfallen und ausgeraubt wurde, sieht das anders: "Für beide Seiten kann eine gut vorbereitete und begleitete Begegnung ein sehr wichtiger Schritt sein", sagt Abrell und erzählt von einem Vater, der nach einem OTG bereit war, dem Mann die Hand zu reichen, der seine Tochter überfahren hatte. "Er konnte ihm vergeben, das hat ihn innerlich geheilt". 

Quelle: Evangelischer Pressedienst (epd)

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