Heftiger Dauerregen verursachte vom 30. Mai bis 4. Juni 2024 in Baden-Württemberg, Bayern, Österreich und in der Schweiz heftige Überflutungen. Im Rems-Murr-Kreis führte das Hochwasser von Rems und Wieslauf zu einem der größten Einsätze in der Geschichte der regionalen Einsatzkräfte. Pfarrer Markus Schwab, Leiter der landeskirchlichen Koordinationsstelle Notfallseelsorge, war eine Woche nach dem Starkregenereignis am 3. Juni 2024 in Rudersberg / Rems-Murr-Keis selbst im Einsatz: als Leiter einer Gruppe für Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) aus Notfallseelsorge und Krisenintervention des Deutschen Roten Kreuzes (DRK).
Wie sah die Situation aus, in die Sie gekommen sind: Mit welchen Schäden waren die Einwohnerinnen und Einwohner und mit ihnen die Einsatzkräfte in den verschiedenen Regionen Württembergs konfrontiert?
Markus Schwab: Im Kreis Göppingen hat das Hochwasser die Gemeinde Ebersbach besonders schwer getroffen. Das Video von der dortigen Überflutung der Bundesstraße 10 mit dem Einsturz der Lärmschutzwand verbreitete sich stark in den sozialen Medien und fand auch seinen Eingang in die Tagesschau. In der Region Oberschwaben musste keine PSNV im Einsatz sein, aber es wurden den betroffenen Gemeinden Angebote zu psychosozialen Hilfsmöglichkeiten gemacht.
Die Gemeinde Rudersberg im Rems-Murr-Kreis war eine der am stärksten vom Hochwasser betroffenen Orte in Baden-Württemberg. Mehr als 1.000 Haushalte wurden erheblich beschädigt, tausende Menschen mussten evakuiert werden. Etwa die Hälfte der öffentlichen Einrichtungen erlitt Schäden. Nach neuesten Schätzungen ist im Landkreis Rems-Murr insgesamt ein Schaden in Höhe von mehr als 120 Millionen Euro entstanden. Dazu zählen Schäden der öffentlichen Infrastruktur, an Landes- und Kreisstraßen, bei Gewerbetreibenden und Privatpersonen sowie Schäden an der Wieslauftalbahn. Im südlich von Rudersberg gelegenen Miedelsbach gab es leider zwei Todesopfer zu beklagen: es waren Mutter und Sohn, die wohl versuchten, ihren Keller vor den Fluten zu retten.
Wie koordiniert sich die Notfallseelsorge in so einer Situation? Welche Kräfte werden angefragt und woher? Wie viele Helfer und Helferinnen waren im Einsatz?
Schwab: Die PSNV, zu der neben der Notfallseelsorge auch die Kriseninterventionsteams der Hilfsorganisationen von Rotem Kreuz, Johanniter Unfallhilfe, Malteser Hilfsdienst und Arbeiter-Samariter-Bund gehören, ist in den Bevölkerungsschutz der Landkreise eingebunden, alle Alarmierungen und Einsätze laufen über die entsprechende Integrierte Leitstelle (ILS). Als die PSNV-Kräfte im Rems-Murr-Kreis gemerkt haben, dass sie nicht mehr genug Ressourcen zur Verfügung haben, wurde die sogenannte Überlandhilfe aktiviert. Tageweise unterstützten PSNV-Kräfte aus den Kreisen Stuttgart, Ludwigsburg, Esslingen und Göppingen. Mit den beiden letzten Systemen war ich als „Leiter PSNV“ im Einsatz.
Mit den Mannschaftstransportern (MTW) der Hilfsorganisationen, die Funk und für den Ernstfall auch eine Signalanlage haben, waren wir jeweils mit einer „Staffel“ vor Ort: das sind zwei Zweier-Teams („Trupps“) plus Leiter oder Leiterin PSNV und einer Führungsassistenz.
Wie sahen Ihre Hilfen vor Ort aus?
Schwab: In Rudersberg war von Anfang an die Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) aus Notfallseelsorge und DRK-Krisenintervention in das Einsatzgeschehen mit eingebunden, um Menschen vor allem zunächst in Notunterkünften zu begleiten. Zudem gab es auch Einzelbetreuungen bei Menschen, die sich eine psychosoziale Begleitung wünschten, oder wenn besorgte Nachbarinnen und Nachbarn oder Angehörige Hilfe für einzelne Menschen anforderten. Wir hatten zudem auch gleich die PSNV-Einsatznachsorge am Start, um auch den Einsatzkräften bei der Bewältigung des Erlebten zu helfen.
Auch die Infrastruktur war ja stark betroffen. Wie sind die Helferinnen und Helfer zu den Menschen gekommen, die Hilfe benötigten?
Schwab: In einem solchen Fall statten Feuerwehr, Hilfsorganisationen oder Technisches Hilfswerk (THW) die PSNV mit Funkgeräten aus und richten ein Funknetz ein, um kommunizieren zu können. Für die betroffenen Menschen in Rudersberg entstand eine Koordinierungsstelle im Rathaus. Dort hatte auch die Einsatzleitung für Hilfsorganisationen und Feuerwehr einen so genannten „Einsatzleitwagen“ (ELW) vor Ort. Die Gemeinde und die Hilfe von außen arbeiteten Hand in Hand, um den Betroffenen so schnell wie möglich zu helfen. Wir hörten aber auch von einer großen Hilfsbereitschaft von „denen auf dem Berg“, die nicht von der Flut betroffen waren. Die komplette Gemeinde hat sich gegenseitig geholfen, Keller auszupumpen, kaputte Möbel und Elektrogeräte aus den Häusern zu entsorgen und vor allem den Schlamm, der überall war, aus den Häusern hinauszubringen.
Es wurden zum Beispiel auch „Fußstreifen“ eingesetzt, die von Haus zu Haus gingen und den persönlichen Bedarf der Menschen erfragten. So haben wir es eine Woche nach der Flut auch noch gemacht, da Teile der Gemeinde immer noch keinen Strom oder Festnetz hatten, das Mobilfunknetz funktionierte glücklicherweise wieder. Am Sonntag nach dem Ereignis war Wahlsonntag. Wir bezogen zusätzlich mit Informationsständen Stellung in Rudersberg und Miedelsbach in den Wahllokalen. Dort waren wir in unserer Dienstkleidung gut zu erkennen. Viele Menschen kamen zu uns her und bedankten sich sehr herzlich für unser Da-Sein. So eine große Dankbarkeit habe ich noch nie erlebt. Sie erzählten uns, es käme ihnen „ganz komisch“ vor, nach sechs Tagen in Gummistiefeln plötzlich im „Sonntagsstaat“ zur Wahl zu gehen.
Wie ging es Ihrem Erleben nach den Menschen in dieser ersten Woche „danach“ – der nach Zäsur des Hochwassers?
Schwab: Am sechsten und siebten Tag nach der Flut waren schon viele Häuser ausgeräumt. Die Menschen waren in Wartestellung auf Versicherungsvertreter und Baustatiker, um die Schäden am Haus oder dessen Bewohnbarkeit abzuschätzen. Viele machten sich nach der immensen körperlichen Anstrengung und der nun folgenden Ruhe zum ersten Mal Gedanken, wie es weitergehen sollte. Das brachte bei einigen ein Gedankenkarussell in Gang, das wir als akute Belastungsreaktion kennen - völlig normal in einer solchen Stress-Situation für Körper und Seele.
Die Menschen fühlen sich dabei ohnmächtig allem ausgeliefert und bilden körperliche, emotionale, gedankliche und Verhaltens-Symptome aus, mit denen sie nicht umgehen können. Wir versuchten, ihnen die „Normalität“ dieser Reaktionen zu erklären. Das half schon vielen, ein Stück ruhiger zu werden und mit der Verarbeitung des Ereignisses zu beginnen.
In Miedelsbach waren natürlich Angehörige, Freunde und Nachbarn der Verstorbenen noch sehr im Schock – hier waren wir nochmals im Einsatz. Ebenso haben wir Augenzeuginnen und Augenzeugen der verheerenden Wucht der Flut begleitet, die Kinder und andere Personen in hilflosen Lagen im Wasser sahen. Beruhigend wirkt in dem Fall auch immer, dass diese Personen dann letztendlich gerettet wurden.
Wie ging es Ihrem Erleben nach den Einsatzkräften nach dieser ersten Woche und wie konnte die PSNV ihnen helfen?
Schwab: Als ich nach einer Woche vor Ort war, waren die örtlichen Einsatzkräfte sehr erschöpft. Sie freuten sich auf den Sonntag – denn sie würden das erste Mal nach sechs Tagen Einsatz frei haben. Die Unterkünfte der Feuerwehr und des DRK Rudersberg waren zudem selbst von dem Hochwasser betroffen, ebenso eigene Häuser und Wohnungen von Einsatzkräften oder deren Angehörigen. Wir PSNV-Kräfte bekamen auch von den Einsatzkräften vor Ort eine riesengroße Dankbarkeit für unseren Einsatz zu spüren. Wichtig ist, insgesamt vier Wochen lang nach dem Ereignis psychosoziale Angebote für die Einsatzkräfte zu machen. Denn wenn Erfahrungen in der ersten Zeit unbegleitet bleiben, können sich die akuten Belastungsreaktionen in Traumata verwandeln - was wir natürlich auf jeden Fall verhindern wollen.
Kirchengemeinden sind herzlich eingeladen, Texte wie diesen von www.elk-wue.de in ihren eigenen Publikationen zu verwenden, zum Beispiel in Gemeindebriefen. Sollten Sie dabei auch die zugehörigen Bilder nutzen wollen, bitten wir Sie, per Mail an kontakt