In der Landeskirche ist die Prävention sexualisierter Gewalt seit vielen Jahren ein wichtiges Thema. Miriam Günderoth, Referentin für Prävention sexualisierter Gewalt, berichtet vom aktuellen Stand, von Feedback, Vorurteilen und Erkenntnissen für die Zukunft.
1. Seit wann arbeitet die Landeskirche im Bereich Prävention sexualisierter Gewalt und in welcher Weise?
Miriam Günderoth: Im Juni 2014 habe ich die „Projektstelle Prävention“ der Landeskirche im Büro für Chancengleichheit angetreten. Damals gab es schon verschiedene Aktionen, Projekte und Überlegungen zur Prävention sexualisierter Gewalt, zum Beispiel in der Jugendarbeit das Konzept „Menschenskinder, ihr seid stark!“
Das Büro für Chancengleichheit befasst sich schon seit den 1990er Jahren mit sexualisierter Gewalt, bereits seit 2004 gibt es zusammen mit der KSA (Klinische Seelsorge-Ausbildung) jährliche Angebote und Kurse zum Thema Nähe-Distanz in der Seelsorge.
Der erste Fachtag mit meiner Beteiligung fand im Oktober 2015 mit Prof. Dr. Martin Wazlawik über sexualisierte Gewalt in pädagogischen Einrichtungen statt. Seither gab es jedes Jahr mindestens einen Fachtag im Themenfeld, seit 2019 gemeinsam mit dem Diakonischen Werk im speziellen Themenfeld der Schutzkonzepte.
2018 startete die Qualifizierung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für das Schulungskonzept „hinschauen – helfen – handeln“ der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) und Diakonie Deutschland hier in Württemberg. Die Teilnahme berechtigt zur Nutzung des Schulungsmaterials für Seminare und für Sensibilisierungen vor Ort und fördert die Einbindung in ein württembergisches Netzwerk zum Austausch und Weiterentwicklung.
2018/19 entwickelte eine Arbeitsgruppe im Auftrag des Oberkirchenrats die Leitlinien zum sicheren Umgang mit Nähe und Distanz, die mit einer Arbeitshilfe veröffentlicht wurden.
In den Corona-Jahren fanden Online-Seminare zur Schutzkonzeptentwicklung statt, die gut genutzt wurden. Erste Schutzkonzepte außerhalb der bundesgesetzlichen Regelungen wurden entwickelt.
Ab 2022 wurde das Thema noch intensiver behandelt, ausgelöst durch die landeskirchliche Gesetzgebung. Die Veröffentlichung der ForuM-Studie im Januar 2024 hat dies nochmals unterstützt.
In den vergangenen zweieinhalb Jahren wurden alle Pfarrerinnen und Pfarrer sensibilisiert, Bezirkssynoden befassten sich mit Schutzkonzepten zur Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt, Arbeitsgruppen zur Schutzkonzeptentwicklung wurden beraten.
Materialien für Bestandteile von Schutzkonzepten werden kontinuierlich (weiter-) entwickelt und im internen Bereich des Dienstleistungsportals der Landeskirche veröffentlicht.
2. Sind die Maßnahmen verbindlich? Für wen?
Miriam Günderoth: Verbindliche Maßnahmen gibt es für die gesamte Landeskirche seit 2022 durch das Gesetz über Allgemeine Bestimmungen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt. Dort sind die Pflichten der Dienststellenleitungen zur Entwicklung von Schutzkonzepten mit Maßnahmen der Intervention und Prävention beschrieben.
Seit 2023 gelten die Regelungen in Bezug auf die Einsichtnahme in erweiterte Führungszeugnisse, Selbstverpflichtung und Selbstauskunftserklärung im Bewerbungsprozess durch die Änderung der Arbeitsrechtsregelung und der kirchlichen Anstellungsordnung (KAO).
Das Thema des Umgangs mit sexualisierter Gewalt geht alle an und ist kein Nischenthema für die Landeskirche. Das Dilemma, mit dem wir umgehen müssen, ist, dass durch die Verpflichtung immer auch Widerstand ausgelöst wird. Das sieht man zum Beispiel am Thema der Einsichtnahme in Führungszeugnisse.
3. Wie ist der Stand in den einzelnen Bereichen?
Miriam Günderoth: In 34 Kirchenbezirken gibt es Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für das Schulungskonzept „hinschauen – helfen – handeln“. Über 100 qualifizierte Mitarbeitende bieten auf diese Weise aktiv Sensibilisierungen und Grundlagenschulungen an. Die Qualifizierungen für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren finden seit 2018 regelmäßig nach dem EKD-Standard statt.
In 90% der Kirchenbezirke wurden bis Ende 2023 alle Pfarrpersonen sensibilisiert. In den restlichen Kirchenbezirken hat dies 2024 schon stattgefunden oder findet im Herbst 2024 statt.
Auch in den kirchlichen Einrichtungen und im Oberkirchenrat gibt es Arbeitsgruppen zur Erstellung spezifischer Schutzkonzepte. Die Landessynode hat zur Sommersynode ein Awareness-Konzept für die Synodaltagungen verabschiedet.
Durch die Gesetzesänderungen zum Beispiel in der KAO sind Bestandteile von Schutzkonzepten auch verbindlich geregelt.
Das Gewaltschutzgesetz der Landeskirche hat das Tempo erhöht, auch die Veröffentlichung der ForuM-Studie hat nochmals Menschen aktiviert, das Thema zu bearbeiten.
4. Gibt es besondere Missverständnisse oder Vorurteile, die Ihnen immer wieder begegnen?
Miriam Günderoth: Im Gespräch über Schutzkonzepte wird mir immer wieder gesagt: „das kommt bei uns nicht vor“. Auf Nachfrage, was mit „DAS“ gemeint ist, wird davon gesprochen, dass es keine Tatpersonen in der Gemeinde gäbe. Für mich ist das immer ein Anlass, über die verschiedenen Bereiche und Zielgruppen von Schutzkonzepten zu sprechen. Ich erläutere dann, dass es auch um das Wissen geht, an wen ich mich wenden kann, wenn mir ein Gemeindemitglied über häusliche Gewalt berichtet, dass ich weiß, dass ich es nicht erdulden muss, wenn mich jemand während meiner Arbeit sexuell belästigt, sondern dass auch ich das Recht auf Schutz habe.
Am häufigsten bekomme ich Mails und Anrufe, die sich auf die Einsichtnahme in ein erweitertes Führungszeugnis beziehen. Es wird als Generalverdacht gegenüber Mitarbeitenden verstanden. Das ist es aus meiner Sicht nicht, denn es ist das einzige Instrument, um sicherzustellen, dass wir keine Menschen beschäftigen, die wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung verurteilt wurden. Zum einen sind wir dazu durch die Gesetze verpflichtet, zum anderen schreckt es tatgeneigte Personen auch ab, wenn wir von Anfang an unsere Haltung zu sexualisierter Gewalt deutlich machen.
Leider lese ich manche Schutzkonzepte, die eigentlich eine Anleitung für ein Schutzkonzept sind. Es geht bei einem Schutzkonzept aber nicht darum zu beschreiben, was man tun könnte, sondern was man konkret tut. Also: Welche Prozesse im Alltag haben wir zum Schutz aller Personen in Abhängigkeiten? An welche Zielgruppe richtet sich unser Angebot, und was tun wir zu deren Schutz? Was gilt bei uns konkret? Wie informieren wir Personen über ihre Rechte, Ansprechpersonen und Beschwerdemöglichkeiten?
5. Wie ist das Feedback insgesamt?
Miriam Günderoth: Aktuell wird an vielen Stellen das Web-Based-Training (WBT) gemacht, das sich an alle haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden der Landeskirche richtet. Es ist als Selbstlernkurs konzipiert, eignet sich aber auch sehr gut für das gemeinsame Bearbeiten in einer Gruppe oder in einem Gremium. Zu diesem gibt es viele positive Rückmeldungen und auch Verbesserungsvorschläge, die mir zeigen, dass sich die Menschen in der Landeskirche an vielen Stellen auch intensiv mit der Thematik befassen.
Bis zu den Sommerferien 2024 haben über 1.500 Teilnehmende das WBT durchlaufen. Dazu kommen noch 40 Gruppenveranstaltungen in Kirchengemeinden und Arbeitsbereichen der Landeskirche, die sich das WBT gemeinsam in einer Präsenzveranstaltung angesehen haben und miteinander diskutiert haben.
Es gibt insgesamt aber auch viele Telefonate und Mailanfragen, die zeigen, dass die Expertise und Beratung gefragt ist und Not tut.
6. Gibt es für Sie Erkenntnisse aus der bisherigen Arbeit, die Sie in Zukunft berücksichtigen möchten?
Miriam Günderoth: Je mehr ich mich mit der Thematik befasse, umso mehr entfaltet sie sich, und umso mehr wird klar, dass wir als Kirche das Thema für uns noch nicht in Gänze umfasst haben. Es ist insgesamt komplex, und die Verschränkungen mit den Feldern der Intervention, Aufarbeitung, Anerkennung und Hilfen benötigten viel Kommunikation und Austausch.
Die ForuM-Studie gibt uns weitere Aufgaben und zeigt Notwendigkeiten auf, die an grundsätzlichen Themen rütteln. Veränderungen in der Haltung, dem Rollenverständnis, der Machtausübung sind nicht von jetzt auf gleich zu vollziehen.
Beim ersten Fachtag mit Prof. Dr. Martin Wazlawik im Jahr 2015 sagte dieser, dass Veränderungen in einer Organisation mindestens eine Generation benötigen – das aber nur, wenn die Veränderungen wirklich starten.
Für uns als Kirche bedeutet das, dass die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt, der Umgang damit und die Prävention, Intervention und Aufarbeitung Daueraufgaben sind, die man nicht einfach mittels Checkliste abhaken kann. Wir müssen darauf hinarbeiten, in unser Selbstverständnis das Denken aufzunehmen, dass der Schutz von Personen, die in Abhängigkeiten stehen, ein beachtenswertes Thema ist.
7. Was hilft aus Ihrer Sicht konkret bei der Umsetzung?
Miriam Günderoth: Es ist sinnvoll, Schritt für Schritt vorzugehen, zum Beispiel eine Arbeitsgruppe zu gründen und diese zuerst im Thema sensibilisieren. Dazu kann man das Web-Based-Training nutzen.
Ein zweiter Schritt ist die Betrachtung der eigenen Gemeinde oder Einrichtung mit ihren Angeboten und Zielgruppen: Welche Risiken können hier benannt werden? Was fällt uns auf?
In einem dritten Schritt empfehle ich den Blick auf die Landeskirche oder den Kirchenbezirk: Was gibt das Schutzkonzept der Landeskirche, des Kirchenbezirks vor? Wo müssen wir für unseren Bereich Konkretisierungen vornehmen?
Kirchengemeinden sind herzlich eingeladen, Texte wie diesen von www.elk-wue.de in ihren eigenen Publikationen zu verwenden, zum Beispiel in Gemeindebriefen. Sollten Sie dabei auch die zugehörigen Bilder nutzen wollen, bitten wir Sie, per Mail an kontakt