Welche kirchlichen und insbesondere evangelischen Traditionen und Denkweisen haben Missbrauch möglicherweise befördert oder den Blick darauf verstellt? Mit diesen Fragen beschäftigten sich am 18. Juli 2024 die 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 2. Fachtags „Toxische Traditionen in Theologie und Kirche“ im Hospitalhof in Stuttgart.
„Kirche ist auf Nähe angewiesen“, brachte die Initiatorin dieses Fachtags, die Ulmer Prälatin Gabriele Wulz, die eigentliche Problematik auf den Punkt. Zusammen mit Prof. Dr. Reiner Anselm will die Evangelische Landeskirche in Württemberg deshalb eine „Ethik der Nähe“ entwickeln.
Anselm, der in München den Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik inne hat, hatte bereits in diese Richtung gedacht und hielt deshalb auch den Auftaktvortrag zum Thema „Ethik der Nähe“ vor den exakt 100 Personen, welche an der Tagung teilnahmen. Prägende Erfahrungen hätten immer mit Nähe zu tun und auch eine körperliche Dimension.
Anselm plädierte deshalb einerseits dafür, als Ausgangspunkt für eine kirchliche Ethik der Nähe zunächst das Grundprinzip der Menschenrechtstradition (Recht auf körperliche Unversehrtheit), „nämlich den Grundsatz, dass die Grenze des Körpers die Grenze des Staates“ markiere, direkt zu übernehmen. Es sei aber „keinesfalls ausreichend, nur die Sphäre des Körpers als Referenzpunkt zu nehmen.“ Sich „an der Leiblichkeit und ihrer Unversehrtheit zu orientieren, geht über die Körperlichkeit hinaus. Unter bestimmten Umständen genügt es schon, jemandem buchstäblich zu nahe zu treten, um ihn in seiner Leiblichkeit zu verletzten.“
Andererseits könne das Ziel nicht in einem „Neopuritanismus liegen, der zwar formal korrekte Interaktionen ermöglicht, das Sozialkapital von kirchlichen Vergemeinschaftungsformen aber zerstört“.
Die Tübinger Dekanin Elisabeth Hege ging in ihrer Antwort direkt auf Anselms Thesen ein. Diese sollen „im Gespräch mit der Praxis“, wie es die Tagungsleitung ausdrückte, überprüft werden. Auch weitere Ergebnisse aus anderen Landeskirchen und auf der Ebene der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sollen in diesen Prozess einfließen.
Der Fachtag gestaltete sich methodisch abwechslungsreich, mit Podiumsdiskussion, Kleingruppenarbeit und ausreichend Pausen zum direkten Austausch unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Das ermöglichte es, unterschiedliche Perspektiven besser wahrzunehmen, und öffnete das Gespräch für dieses vielschichtige Thema. Trotzdem brauche es „es einen langen Atem und ein kontinuierliches Weiterarbeiten“, wenn es um Haltungen und Kultur gehe, resümierte die Tagungsleitung.
Für diese Weiterarbeit wurden an diesem Fachtag die Weichen gestellt, indem die Arbeitsgruppen, die zu zentralen pastoraltheologischen Fragestellungen bereits über ein Jahr gearbeitet hatten und ihre Ergebnisse im Rahmen dieses Fachtags präsentierten, vom Landesbischof um Weiterarbeit gebeten wurden. Die Arbeitsgruppen zu Liturgie und Gottesdienst, Amt und Berufung, Seelsorge, Bildung in Schule und Jugendarbeit und zum Umgang in asymmetrischen Beziehungen (geistlicher Missbrauch) werden sich im Nachgang zu diesem Fachtag treffen und ihre Vorhaben nach der Sommerpause vorstellen.
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