26.06.2023

„Die Gemeinde hat sich auch ständig verändert“

31 Jahre als Pfarrerin in derselben Kirchengemeinde: Welche Erfahrungen hat Angelika Volkmann dort gemacht?

Angelika Volkmann war 31 Jahre lang Pfarrerin in der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde in Tübingen. Wie schaut sie auf die drei Jahrzehnte in derselben Gemeinde zurück? Und was ist das Besondere daran, so lange am selben Ort tätig zu sein? Darüber spricht sie in unserem Interview.

Pfarrerin Angelika Volkmann war 31 Jahre in derselben Gemeinde tätig. In dieser Zeit hat sich eine große Vertrautheit zu vielen Gemeindegliedern eingestellt.

Wie blicken Sie auf Ihre Dienstzeit zurück?

Angelika Volkmann: Voller Dankbarkeit. Mein Mann und ich haben es 1992 beide so empfunden, dass es ein großes Glück ist, wenn man so gut auf eine Pfarrstelle passt. Elf Jahre lang haben wir uns die Stelle geteilt. Wir haben uns hier von Anfang an sehr wohlgefühlt. Die Gemeinde ist wunderbar, sehr aufgeschlossen und vielfältig. Jetzt schaue ich auf viele schöne Begegnungen, Beziehungen und Projekte zurück und kann nur sagen: Es war ein großes Geschenk.

Das letzte Jahr habe ich noch einmal ganz bewusst ausgekostet und mir jeweils klar gemacht: Das ist das letzte Mal Erntedank, das letzte Mal Weihnachten, das letzte Mal Ostern und – schon im Jahr davor – das letzte Mal die Konfirmation. Jedes Mal habe ich gedacht: Das wirst du nicht mehr erleben. Und jedes Mal war es noch einmal schön. Es ist wunderbar, wenn man sich so verabschieden kann.

Was waren Ihnen in Ihrem Dienst als Pfarrerin besonders wichtig?

Volkmann: In den ersten Jahren haben wir, vor allem ich, eine intensive Familienarbeit gemacht. Zwischen 1997 und 2014 habe ich mit sich wandelnden Teams ungefähr 30 Kinderbibeltage durchgeführt, die wir immer am Samstag ganztägig angeboten haben. Oft kamen 40 Kinder. Wir haben viel Theater gespielt und am Sonntag gab es einen Familiengottesdienst, zu dem auch die Eltern kommen konnten und miterleben, was die Kinder gemacht haben. Für sie war es ein Wochenende, an dem sie wussten: Die Kinder haben am Samstag ein tolles Programm und sie selbst können in der Zeit etwas anderes machen. Wir haben erst damit aufgehört, als die Kinderzahlen demografisch so stark zurückgingen, dass sich kaum noch Kinder angemeldet haben.

1996 haben wir die Kinderkirche auf den Freitagnachmittag gelegt, weil so auch Eltern, die selbst nicht in den Gottesdienst gegangen sind, ihre Kinder daran teilnehmen lassen konnten – und die Kirche war voll.

Also haben Sie Ihre Angebote immer wieder verändert?

Volkmann: Ja, den Besuchskreis für alte Menschen haben wir in den 31 Jahren zweimal neu gegründet und zweimal auslaufen lassen, weil Ehrenamtliche gegangen sind und wir in dieser Zeit keine neuen finden konnten.

Ich betrachte Gemeindearbeit als etwas Organisches und finde wichtig, dass man aufmerksam dafür sein sollte, was aufhören will und was wachsen will, und daran anknüpft und nicht starr etwas mit viel Energie durchhält, was gerade nicht möglich ist. Ich mache jetzt ganz andere Dinge als zu Beginn.

An welche Angebote erinnern Sie sich noch besonders gerne zurück?

Volkmann: In den Nullerjahren haben wir ein großes Projekt zum Thema „Ehrenamt“ gemacht und Leitlinien für ein neues Verständnis von Ehrenamt entwickelt, um neue Menschen zu gewinnen, die Lust haben, sich zu engagieren. Das hat für lange Zeit gewirkt und Früchte getragen. Jetzt will der Kirchengemeinderat wieder so etwas machen – zwar erst, wenn ich weg bin, aber wir haben es schon in den Blick genommen.

Ab 2015 hat unsere Gemeinde ein Freitagnachmittagscafé im Stadtteiltreff begonnen, in dem Ehrenamtliche kleine Programme durchgeführt haben. Ich habe dort – und bewusst nicht in der Kirche – monatlich an einem Freitagnachmittag ein Gesprächsangebot gemacht, weil eine unserer jungen Kirchengemeinderätinnen zu mir gesagt hat: „Hier ist alles so hochgebildet. Kann man nicht einmal ganz normal über Gott reden?“ Die Themen waren zum Beispiel „Warum ist Vergebung so schwierig?“, „Gibt es Wunder?“, „Kritisieren, ohne zu verletzen“ und „Freundlich mit sich selbst umgehen – wie geht das?“. So haben wir die Zusammenarbeit mit dem Quartier, in dem wir uns befinden, ausgebaut. Und wir haben den Mittagstisch „Bonhoeffer kocht – Mittagessen für alle“ ins Leben gerufen.

Was ist das Besondere daran, so lange in einer Gemeinde tätig zu sein?

Volkmann: Die große Vertrautheit, die sich eingestellt hat. Ich taufe jetzt Kinder von früheren Konfirmandinnen und Konfirmanden, die ich vielleicht sogar getraut habe. Und manchmal habe ich auch schon ihre Großeltern beerdigt. Es gibt etliche Familien, für die ich Familienpfarrerin über vier Generationen hinweg bin. Die Verbindung zu vielen Gemeindegliedern ist sehr tief. Ich weiß, wem ich predige, weil ich viele Menschen aus seelsorgerlichen Gesprächen kenne.

Aber die Gemeinde hat sich auch ständig verändert. Neue Menschen kommen hinzu, alte ziehen weg oder werden älter und scheiden zum Beispiel aus der ehrenamtlichen Mitarbeit aus. Ich war vorher an drei verschiedenen unständigen Stellen tätig. Hätte man mir zu Beginn meiner Zeit hier prophezeit, dass ich meine erste ständige Stelle bis zum Ruhestand behalten würde, hätte ich das nicht für möglich gehalten. Ich habe es nicht geplant, aber es kam so, ist stimmig und wird mir auch so zurückgespiegelt.

Sie sind in der Gemeinde bei vielen Neuanfängen mitgegangen. Haben Sie sich persönlich verändert?

Volkmann: Natürlich. Auch mein eigener Entwicklungs- und Lernprozess ist in der ganzen Zeit weitergegangen. Man muss nicht den Ort wechseln, um sich theologisch, spirituell und als Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Vor allem hat sich mein christlicher Glaube verändert und durch die Begegnung mit dem lebendigen Judentum vertieft. Wirklich zu begreifen, dass Gott Israel den Bund nicht aufgekündigt hat und dass Jüdinnen und Juden schon bei Gott sind und wir durch Christus hinzugekommen sind, verändert die eigene christliche Identität. Schon Paulus hat uns aufgefordert, die Überheblichkeit abzulegen.

Und seitdem ich eine Fortbildung in christlicher Kontemplation gemacht habe, ist mein Gottesbild weiter geworden. Ich habe das Beten ohne Worte als eine tiefe Erfahrung, die verändert, kennengelernt. Ich glaube, ich predige auch anders als früher und habe oft mehr Fragen als Antworten.

Wie ist es für Sie, jetzt Abschied zu nehmen?

Volkmann: Wehmütig. Ich liebe meinen Beruf und er hat mir die Chance gegeben, etwas zu tun, das sehr sinnstiftend ist. Mich davon zu verabschieden, ist für mich mit Trauer verbunden. Ich habe schon getrauert und will weiterhin bewusst durch diesen Prozess hindurchgehen. Es werden auch noch einige Tränen fließen, wenn ich am 1. Juli verabschiedet werde. Am Tag darauf beim Gemeindefest darf ich dann schon nichts mehr mit vorbereiten, sondern ich soll einfach nur da sein. Das hat sich die Kirchengemeinde gewünscht.

In den letzten 31 Jahren hat sich viel geändert. Wo sollten Christinnen und Christen das Evangelium verkündigen?

Volkmann: Ich finde wichtig, dass wir uns bei der Kommunikation des Evangeliums in einer Welt, in der der christliche Glaube nicht mehr selbstverständlich ist, nicht hinter Kirchenmauern zurückziehen. An vielen Orten finden zurzeit Tauffeste statt. Mit so einem Angebot kommen wir den Menschen entgegen. Wir sollten die, die die Kirche verlassen haben und vielleicht trotzdem an ihr interessiert sind, oder Menschen, die noch in der Kirche sind, aber kritisch sind, das Evangelium kommunizieren. Kirche muss anschlussfähig bleiben und so sprechen, dass Menschen merken, dass die christliche Botschaft sie etwas angeht und für sie eine Fundgrube oder eine Quelle wäre, aus der sie schöpfen können.

Von welcher Form des Gemeindelebens braucht es mehr?

Volkmann: Ich würde mir mehr Flexibilität, Mut und Fantasie wünschen, Kirche neu zu denken. In der Tübinger Gesamtkirchengemeinde könnten wir uns zum Beispiel immer stärker als eine Gemeinde begreifen und gemeindeübergreifend agieren. An verschiedenen kirchlichen Orten könnten unterschiedlichste Angebote gemacht werden. Statt dass jeden Sonntag – zugespitzt gesprochen – sieben „gleiche“ Gottesdienste gehalten werden, benötigt es vielleicht nur noch an vier Stellen normale Sonntagsgottesdienste und dafür zum Beispiel noch einen Abendgottesdienst in einem ganz anderen Format, einen Gottesdienst in leichter Sprache, der nur einmal im Monat an einem bestimmten Ort stattfindet, und einen Gottesdienst mit einem völlig anderen Musikstil. Und die zahlenmäßig wenigeren Pfarrerinnen und Pfarrer könnten dann gemeinsam diese verschiedenen Profile anbieten. Es kann nicht mehr jede Gemeinde eine Pfarrperson „nur für sich“ haben.

Was können wir Christinnen und Christen in die Gesellschaft hineintragen?

Volkmann: Ich glaube, unsere wunderbare Botschaft von der Gnade Gottes wird zum Beispiel darin konkret, dass wir Fachleute für wertschätzende Kommunikation sind. Dass wir lernen, wertschätzend miteinander umzugehen, ist in Gemeinden wichtig – und Pfarrerinnen und Pfarrer haben dafür Schlüsselpositionen. Wir sollten diese Kompetenz in die Gesellschaft hineintragen. Denn unsere Gesellschaft krankt ja daran, dass man kaum noch eine Debatte führt, ohne den Gegner fertigzumachen, abzuwerten und zu beleidigen. Kirchengemeinden sind Orte, die eine Kultur der Wertschätzung fördern können, auch bei strittigen Themen, und sie können sie in öffentliche Debatten einbringen.

Was kommt im Ruhestand auf Sie zu?

Volkmann: Ich werde auch in Zukunft noch Gottesdienste halten, aber erst einmal ein Jahr Pause machen. Das habe ich mir bewusst vorgenommen. Außerdem werde ich mich neu fragen, was mein Platz ist und welches Ehrenamt in der Kirche oder auch woanders zu meiner neuen Aufgabe werden kann.

Zur Person

Angelika Volkmann ist 65 Jahre alt und war 31 Jahre lang Pfarrerin an der Dietrich-Bonhoeffer-Kirche in Tübingen. Nun geht sie in den Ruhestand.

Bevor sie in der Gemeinde tätig war, war sie drei Jahre Kurseelsorgerin in Bad Urach und drei Jahre Repetentin im Tübinger Stift mit besonderem Seelsorgeauftrag. Seit 2015 war sie Dekaninnenstellvertreterin.

Volkmann hat eine Zusatzausbildung als Transaktionsanalytikerin gemacht und war in der Notfallseelsorge aktiv.

Mehr als zwei Jahrzehnte lang hat sie mit einem Team zu einem wöchentlichen Taizé-Gebet eingeladen.

Außerdem ist das christlich-jüdische Gespräch ein Schwerpunkt der Arbeit von Angelika Volkmann. Die Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde hat auch eine Partnerschaft mit der Jüdischen Gemeinde in Petrosawodsk (Russland), die seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ruht. Hier können Sie mehr darüber erfahren.

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