Am 29. Oktober wird in Ulm ein ganz spezielles Jubiläum gefeiert: Seit 100 Jahren gibt es in der württembergischen Landeskirche eigene Gottesdienste für gehörlose Menschen. Pfarrerin Daniela Milz-Ramming ist dafür in der Landeskirche zuständig. Im Folgenden erzählt sie die Geschichte der Gehörlosen-Gottesdienste.
Von Pfarrerin Daniela Milz-Ramming
Voller Freude feiern wir im Oktober 2023 ein Jubiläum: 100 Jahre Gottesdienste für Gehörlose in Württemberg! 1923 erhielt der Vikar Held aus Urbach die Genehmigung vom Oberkirchenrat, vier spezielle Gottesdienste pro Jahr anzubieten. Das geschah auf dringende Anregung von gehörlosen Menschen selbst hin. Aber auch weit zurückreichend finden sich in kirchlichen Korrespondenzen Anträge und Anfragen, wie man mit gehörlosen Menschen besonders hinsichtlich der Konfirmation umgehen solle. Das war eine entscheidende Frage, setzte sie doch den Zugang zum Abendmahl und zu kirchlichen Amtshandlungen voraus. In dieser Beziehung gab es viel Ablehnung und die gehörlosen ausschließende Beschlüsse und teilweise Einzelfallentscheidungen. Die Lehrenden an den Spezialschulen übernahmen es meist, zugelassene Konfirmandinnen und Konfirmanden zu unterrichten. Das geschah lange auf höchst individuelle Art und Weise.
Die Anfänge der Arbeit in Württemberg liegen nämlich mitten im dunkelsten Jahrhundert der Gehörlosen-Pädagogik in Europe! 1880 hatte ein Kongress aus europäischen Pädagogen beschlossen, die Gebärdensprache nicht mehr anzuwenden. Alles sollte von den Lippen gelesen werden, gehörlose Menschen sollten sprechen lernen. 100 Jahre lang wurden sie an den Schulen – oft mit sehr fragwürdigen Methoden – dazu gezwungen. Das hat viel Leid unter gehörlosen Menschen verursacht, die meisten Gehörlosen wurden so von Bildung ausgeschlossen. Denn heute ist erforscht: Maximal 30 Prozent der Laute kann man sehen. Auch diese ersten Gottesdienste waren sicher lautsprachlich.
Aber in diesen hundert Jahren hat sich die Situation sukzessive verändert: Bilder und Texte wurden projiziert, zur Lautsprache gesellten sich Gebärden, momentan sind wir deutschlandweit im Wandel zur vollständigen Liturgie und Predigt in Gebärdensprache. Seit 2002 ist die Deutsche Gebärdensprache als eigenständige Sprache anerkannt. Gehörlose Menschen werden nach langer Unterdrückung selbstbewusst und fordern Gebärdensprache. Das ist natürlich nun eine Herausforderung für die Pfarrerinnen und Pfarrer – hier brauchen wir in Zukunft unbedingt Arbeitszeit und eine solide Ausbildung. Beides steckt in den Kinderschuhen.
Ich selbst bin eigentlich eine ganz normale Pfarrerin. Ich mag Fremdsprachen und hatte deshalb einfach ganz privat Gebärdensprachkurse besucht. Das bedeutet: Auch ich bin keine Muttersprachlerin. Meine Gebärdensprache ist alles andere als perfekt. Ich bin ganz gerührt, dass die gehörlosen Meschen das aushalten und mich in ihren Reihen akzeptieren.
Nicht nur mir, sondern allen Seelsorgenden, die gebärdensprachlich arbeiten, ist es wichtig, niemanden auszuschließen. Das geschieht mit gehörlosen Menschen schnell. Gehörlosigkeit sieht man nicht. Deshalb übersieht unsere Gesellschaft und leider zuweilen auch unsere Kirche gerne, dass es diese Menschen gibt und dass auch sie Sehnsucht danach haben, ihren Glauben in Gemeinschaft zu leben, von Gottes Wort zu hören, Abendmahl und Gottesdienste zu feiern und Gemeinde zu leben. Einer von 1000 Menschen in Deutschland ist gehörlos und braucht alternativlos Gebärdensprache. Ein weiterer Mensch unter 1000 ist so stark schwerhörig, dass er sich besser mit Gebärdensprache zurechtfindet. Technische Lösungen funktionieren höchst individuell. Beim einen funktionieren sie besser als bei der anderen. Es wird immer Menschen geben, die gehörlos bleiben und die Gebärdensprache brauchen. Schon in der Bibel gilt ja: „Den Griechen ein Grieche!“- das Evangelium soll in der Sprache und in den kulturellen Zusammenhängen verkündigt und verankert werden, die die jeweiligen Menschen verstehen. Das gilt eben auch für gehörlose Menschen und ihre Sprache.
Auf der Welt gibt es übrigens 200 anerkannte Gebärdensprachen und unzählige Dialekte. Die Deutsche Gebärdensprache hat eine eigene Grammatik und Idiome. Das spielt natürlich auch in der Seelsorge und Verkündigung eine wichtige Rolle
Ich erinnere mich den alten Werbespruch: „Es gibt viel zu tun, packen wir’s an!“ Darauf habe ich Lust! Es lohnt sich, einem ganzen Teil unserer Gesellschaft zu ihrem Recht zu verhelfen!
Pfarrerin Daniela Milz-Ramming
Die Jubiläumsfeier findet am Sonntag, 29. Oktober, im Haus der Begegnung,in Ulm statt.
Programm:
Die Gemeindearbeit in Gebärdensprache bietet in der württembergischen Landeskirche an zwölf Orten für neun größeren Regionen Seelsorge, Kasualien, Freizeiten und Ausflüge an. Die Gehörlosenseelsorge verbreitet sonntägliche Andachten, inzwischen deutschlandweit, auf Youtube und informiert über Homepage, Facebook und Instagram. Für kirchliche Amtshandlungen reist die Gehörlosenseelsorgerin aber an den jeweiligen Wohnort, Menschen mit Hör-Sehbehinderung erhalten die Sonntagsandachten im Wortlaut, Gespräche unter vier Augen können an einem Treffpunkt, im Messenger-Chat oder per Videokonferenz stattfinden.
Kirchengemeinden sind herzlich eingeladen, Texte wie diesen von www.elk-wue.de in ihren eigenen Publikationen zu verwenden, zum Beispiel in Gemeindebriefen. Sollten Sie dabei auch die zugehörigen Bilder nutzen wollen, bitten wir Sie, per Mail an kontakt