23.08.2023

Feriendorf Tieringen: Familien atmen durch und tanken Kraft

Ein Interview mit Diakon Bernhard Deyhle und Kirchenrat Tobias Schneider

Hoch oben auf der Balinger Alb liegt das evangelische Feriendorf Tieringen – landschaftlich weltentrückt, aber menschlich mittendrin im Leben. Denn das Programm der Anlage mit über 250 Betten, eigenem Hallenbad und vielen Gruppenräumen richtet sich vor Allem an Familien mit vielen Kindern, mit beeinträchtigten Familienmitgliedern und an Familien in besonderen Lebenslagen. So ruhig das Dorf in der Landschaft liegt, so intensiv pulsiert hier das Leben. Was das Feriendorf und seine Angebote so besonders macht und wie es in der Arbeit der Landeskirche und des Diakonischen Werks Württemberg verankert ist, erklären im Interview Diakon Bernhard Deyhle (Leiter des Feriendorfs) und Kirchenrat Tobias Schneider (Leiter des Zentrums für Gemeindeentwicklung und missionale Kirche und kommissarischer Geschäftsführer des Vereins für evangelische Feriendörfer e.V.)

Das Feriendorf Tieringen liegt nahe am Albtrauf der Balinger Alb.

Was ist das Besondere an Tieringen? Was macht dieses Angebot so wertvoll?

Bernhard Deyhle: Das Feriendorf Tieringen ist neben dem Monbachtal die einzige evangelische Familienerholungsstätte in Württemberg und Baden. Die Lage des Feriendorfs Tieringen mitten in der Natur, auf der Albhochfläche, nahe am Albtrauf ist superschön. Die Anlage ist weitläufig und voll auf Familien ausgerichtet (Spielplätze, Freiflächen, Grillstellen, Tierbereiche). Es gibt großräumige, praktisch eingerichtete und gut gepflegte Ferienhäuser. Das Highlight der Anlage ist das eigene, komplett sanierte Hallenbad. Die Stadt Meßstetten hat bestimmte Zeitfenster in diesem Bad reserviert und beteiligt sich mit 50 Prozent an den Kosten – eine echte Win-win-Situation.

Diakon Bernhard Deyhle, Leiter des Feriendorfs Tieringen.

Das Aushängeschild ist das umfangreiche kostenfreie Ferienprogrammangebot in allen Ferienzeiten. Für Kinder verschiedener Altersgruppen, Jugendliche und für die ganze Familie bieten wir in ca. 20 Wochen im Jahr ein umfangreiches Programm an. Gemeinschaft erleben, christliche Werte teilen, miteinander auf Augenhöhe unterwegs zu sein – das sind die Grundpfeiler dieser Angebote. Mit den 40 Ferienhäusern und dem Gemeinschaftshaus sind sehr unterschiedliche Angebotsformen möglich (Familien, Gruppen, Seminare, Feiern, Vollverpflegung, Selbstverpflegung, Wochenendaufenthalte, Urlaubswochen …) Die großen und zum Teil barrierefreien Ferienhäuser sind ideal für kinderreiche Familien und für Familien mit gehandicapten Familienmitgliedern. Die durchschnittliche Größe liegt bei 3,7 Kindern pro Familie, aber auch Großfamilien mit sechs bis zehn Kindern sind keine Ausnahme.

Kirchenrat Tobias Schneider, Leiter des Zentrums für Gemeindeentwicklung und missionale Kirche und kommissarischer Geschäftsführer des Vereins für evangelische Feriendörfer e.V.

Wie ist das Feriendorf in die Arbeit der Landeskirche und des Diakonischen Werks eingebunden?

Tobias Schneider: Das Feriendorf Tieringen ist als eingetragener Verein über den Fachbereich Freizeit und Tourismus im Zentrum für Gemeindeentwicklung und missionale Kirche direkt an die Landeskirche angebunden. Das bedeutet konkret strukturell, dass Geschäftsführung und Personalverwaltung über die Landeskirche laufen, die auch im Aufsichtsrat beteiligt ist. Die Stelle der Feriendorfleitung wird mit einem Diakon oder einer Diakonin besetzt, und auch die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit ist stark landeskirchlich geprägt. Die Feriendorfleitung ist Mitglied in verschiedenen kirchlichen Gremien auf Bezirks- und Landeskirchenebene und sorgt damit für eine gute Vernetzung der Arbeit. Vor Ort besteht eine Zusammenarbeit mit dem benachbarten Haus Bittenhalde, einer Tagungsstätte der Kirchenbezirke Balingen, Sulz und Tuttlingen. Das Feriendorf ist Mitglied im Diakonischen Werk Württemberg, hier bestehen enge Kooperationen.

Das eigene Hallenbad ist ein echtes Tieringer Highlight.

Wer ist die Zielgruppe und wer kann besonders von den Angeboten in Tieringen profitieren?

Bernhard Deyhle: Mit einem Wort - Familien, Familien, Familien … Zu uns kommen vor Allem kinderreiche Familien, Familien mit einem behinderten Familienmitglied, sozial schwächere Familien und Familien in besonderen Lebenslagen. Diesen Familien soll eine wertefundierte und familienstärkende Erholung angeboten werden.

Der Begriff der Familie hat sich in den letzten Jahren stark verändert und erweitert, so sind zunehmend auch Alleinerziehende, Patchworkfamilien, generationenübergreifende Angebote, Pflegefamilien etc. unter den Gästen zu finden. Das Feriendorf Tieringen beteiligt sich aktiv in Konzeption und Durchführung geförderter Angebote im Rahmen von Stärkefreizeiten (sozial schwache Familien, Pflegefamilien, internationale Familien, Alleinerziehenden, …) und neu an den vom Sozialministerium aufgelegten Förderprogrammen zum Beispiel für Familien mit stark behinderten Kindern, Trauerfamilien, Familien mit Suchterfahrung. Für den Landkreis und das Diakonische Werk ist das Feriendorf Partner für Notquartiere bzw. Unterstützungsmaßnahmen (Urlaub für Familien nach der Flutkatastrophe im Ahrtal, Quarantäneunterbringung für internationale Pflegeauszubildende, Unterbringung von minderjährigen Flüchtlingen). All dies aber nie in einer Dauerunterbringung, sondern nur im Rahmen von befristet verfügbarem Wohnraum.

Um aber wirtschaftlich gut aufgestellt zu sein, reicht Familie als Zielgruppe nicht aus. Es gilt, auch in Nichtferienzeiten ganzjährig Belegung zu akquirieren. Daher gibt es im Feriendorf einen breiten Belegungsspagat. So sind an Wochenenden viele Familientreffen, aber auch Seminare von kirchlichen und nichtkirchlichen Gruppen, Vereinen und auch von Freikirchen bei uns zu Gast. Unter der Woche gibt es ca. 25 FSJ-Seminarangebote des Diakonischen Werks, aber auch Firmen mit Auszubildenden und auch Behinderteneinrichtungen nutzen unser Feriendorf regelmäßig. Hinzu kommen Schulklassen mit erlebnispädagogischem Programm, Theater-AG`s, Schulchöre etc.

Tobias Schneider: Im Bereich der Württembergischen Landeskirche gibt es kein vergleichbares Angebot mit evangelischem Profil, das Freizeit, Erholung und erlebnisorientierte Formate für Familien, insbesondere aus gesellschaftlich benachteiligten Kontexten, verbindet.

40 Ferienhäuser unterschiedlicher Größe und Ausstattung bietet Tieringen.

Vor welchen Herausforderungen steht Tieringen in den kommenden Jahren?

Bernhard Deyhle: Aktuell ist eine gute Auslastung überhaupt kein Problem. Es gilt, den besten Mix aus zielgruppenorientierter Familienarbeit und wirtschaftlich orientierter Belegung zu finden. Leider sind die marktnotwendigen Preise für die (sozial schwächeren) Familien nicht finanzierbar. Hier gilt es sich an unterschiedlichen Förderprogrammen zu beteiligen, Familienpolitik in Staat und Kirche aktiv zu beeinflussen und zukünftig weitere Fördergelder zu erschließen. Die Notwendigkeit für Familienerholung ist in unserer Gesellschaft größer denn je. Hinzu kommt, dass 65 Prozent der Einrichtungen in den letzen Jahren geschlossen wurden und sich die Arbeit nun auf deutlich weniger Einrichtungen verteilt.

Die Gäste im Feriendorf in Tieringen sind immer mehr ein Abbild unserer Gesellschaft. War es in Gründungsjahren vielleicht noch ein attraktiver Urlaubsort für absolut kirchennahe Menschen, so wird die Besuchergruppe vielfältiger und bunter. Die Anforderungen an soziale Arbeit steigen ungemein. Sinnsuche und Familienstärkung sind jedoch in Urlaubszeiten in allen Bevölkerungsschichten deutlich stärker ausgeprägt als im Alltag. Wir können da mit unserer gesprächsoffenen, unvoreingenommenen, ungefärbten und sehr niederschwelligen christlichen Herangehensweise ein einmaliges Angebot machen. Wo in unserer landeskirchlichen Arbeit haben wir die kompletten Familien bei uns und das auch noch über mehrere Tage? Wo geschieht interreligiöser Dialog einfacher als im Miteinander im Urlaub? Wo geschieht Integration einfacher und unkomplizierter, als im gemeinschaftlichen Miteinander im Speisesaal, im Hallenbad und im Ferienprogrammangebot unseres Feriendorfes?

All dies ist natürlich eine Herausforderung an das Personal. Fachkräftemangel und zurückgehendes ehrenamtliches Engagement spüren wir auch. Doch immerhin haben wir jedes Jahr noch 50 bis 60 Ehrenamtliche, die sich wochenweise engagiert im Ferienprogramm einbringen. Allerdings werden die Anforderungen an gelingende Gruppenarbeit mit Kindern, Jugendlichen, Eltern und Familien immer komplexer.

Der Belegungsspagat und die damit verbundenen frühzeitigen Vorplanungen für Räume und Personal sind eine große Herausforderung. Damit verbunden sind Putzzeiträume und Sperrzeiten für Sanierungsarbeiten, die immer frühzeitiger in den laufenden Betreib einzuplanen sind – das ist herausfordernd.

Auch einen Streichelzoo gibt's in Tieringen.

Tobias Schneider: Eine Einrichtung wie das Feriendorf mit vielen Gebäuden und einer großen Anlage muss natürlich im Wertbestand erhalten und gepflegt werden. Hier wurde in den vergangenen Jahren einiges investiert, so sind das Blockheizkraftwerk (in zweiter Generation) und ein internes Nahwärmenetz ökologisch und wirtschaftlich auf dem neuesten Stand, die komplette Hallenbadtechnik ist neu, und die Ferienhäuser im Unterdorf wurden grundsaniert und die im Oberdorf mit neuen Bädern, Küchen und Heizungen ausgestattet.

Wirtschaftliches Denken und Handeln mit Abschreibungen, regelmäßigen Investitionen und teilweise auch Innovationen haben die Anlage in den letzten Jahren wertstabil und attraktiv gehalten. Die Anlage ist aktuell gut in Schuss, aber um dies zu erhalten, muss weiterhin jährlich ein größerer Betrag investiert werden. Diese notwendige Zukunftsinvestitionen und eine damit verbundende wirtschaftliche Verantwortung sind wir unseren zahlenden Gästen, unseren motivierten Mitarbeitenden, der Schöpfung und unseren Förderern schuldig. Für die nächsten Jahre wurde deshalb ein Investitionsprogramm für das Feriendorf aufgestellt, das auch von der Landeskirche mitfinanziert wird.

Die größte aktuelle Herausforderung liegt darin, dass die dafür benötigen Fördermittel, insbesondere vom Bund, auch weiterhin erhalten bleiben. Hierzu gibt es aktuell sogar die bundesweite Kampagne #RettetFamilienferienstätten, die die wichtige Rolle der Familienferienstätten für die Arbeit mit Familien deutlich machen möchte und sich gegen eine Kürzung von Förderungen stark macht.

Auch die Einbettung in die Natur der Schwäbischen Alb kennzeichnet das Feriendorf Tieringen.

Wie hat Tieringen die Corona-Zeit verkraftet? und wie entwickeln sich die Übernachtungszahlen?

Bernhard Deyhle: Das Feriendorf Tieringen ist wirtschaftlich sehr gut über die Coronazeit weggekommen. Die komplette Mitarbeiterschaft (einschließlich des leitenden Diakons) war in Kurzarbeit und hat von den Förderhilfen des Staates profitiert. Auch wurden bei sämtlichen Coronafördertöpfen bei Land und Bund Mittel beantragt. Sobald sich ein Öffnungsfenster in den verschiedenen Coronazeiten ergab, war das Feriendorf vorne mit dabei und hat den Betrieb – auch unter vielen Auflagen – wieder ermöglicht. Die freistehenden Ferienhäuser haben dabei auch viel ermöglicht.

Ganz, ganz stark haben wir von dem bundeweiten Förderprogramm „Coronauszeit für Familien“ im Jahr 2021/22 profitiert. Wir waren bundesweit einer der größten „Player“ und konnten in den 15 Monaten, in denen das Programm lief, über 900 Familien mit ca. 35.000 Übernachtungen bei uns als Gäste begrüßen. Das brachte uns personell und strukturell an unsere absoluten Leistungs- und Belastungsgrenzen, denn es musste ganzjährig ein anspruchsvolles Familienprogramm und Vollverpflegung vorgehalten werden. Über 1,2 Millionen Euro konnten allein an die coronabenachteiligten Familien, die in Tieringen zu Gast waren, als Zuschussgelder ausbezahlt werden. Unser Umsatz lag in diesem Förderprogramm bei 1,5 Millionen. Auch galt es neben den Förderfamilien auch die „Stammkundschaft“ weiterhin zu bedienen. In 2023 gibt es diese Gelder nicht mehr, aber wir sind im Feriendorf in Tieringen intensiv an den deutlich kleineren Förderfolgemaßnahmen Nordrhein-Westfalens und teilweise auch Baden-Württembergs beteiligt. Allerdings sind dies verwaltungstechnisch und auch programmtechnisch sehr aufwändige Aufgaben, die auch leider nicht immer wirtschaftlich ausreichend gefördert werden, aber eben absolut unsere Zielgruppen ansprechen. Der Spagat bleibt auch da erhalten.

Im letzen Jahr 2022 hatten wir 43.000 Übernachtungen. 70 Prozent davon waren Familienbelegungen. Das Feriendorf hat 252 Betten in 40 Ferienhäusern und insgesamt 10,5 Personalstellen und drei Freiwilligenstellen. Vor Corona hatten wir im Schnitt ca. 33.000 Übernachtungen im Jahr und auch damit schon eine sehr gute Auslastung. Die starke Beteiligung an den Coronaauszeitprogrammen war für das Feriendorf Tieringen bundesweit sehr werbewirksam, was sich nun auch in den Folgejahren bei Gästeanfragen nachverfolgen lässt.

Die Gäste finden auch auf dem Gelände rund um die Häuser vielerlei Anregungen.

In welchem Verhältnis steht die Landeskirche zum Feriendorf?

Tobias Schneider: Die Landeskirche schätzt die Arbeit des Feriendorfes sehr. Das Feriendorf in Tieringen bietet kirchennahen und kirchenfernen Menschen eine Kontaktfläche mit Kirche und christlichen Inhalten im Kontext von Urlaub und Freizeit. Dazu gehört neben dem inhaltlichen Programm in besonderer Weise auch die Wertevermittlung durch die Kultur des Miteinanders, auch im Alltag des Feriendorfs. Das Feriendorf liefert damit einen Beitrag zu non-formaler evangelischer Bildung im Kontext der Landeskirche.

Mit den speziellen Angeboten für verschiedene Zielgruppen richtet sich das Feriendorf gezielt an Familien, die in klassischen Freizeitangeboten oft nicht im Blick sind. Dieses diakonische Profil in Verbindung mit erlebnisorientierten und inhaltlichen Programmangeboten macht den besonderen Reiz des Feriendorfs aus und ist deshalb auch besonders unterstützenswert und wertvoll. Ein herzlicher Dank dafür gebührt allen Mitarbeitenden, die ihren Beitrag dazu leisten.

Ich freue mich sehr, dass es das Feriendorf Tieringen gibt, und wünsche mir, dass die gute Arbeit dort noch lange weitergeht.

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