18.07.2023

„Obacht bei Zahlen zum Thema Christenverfolgung!“

Interview mit Katja Dorothea Buck

Die Tübinger Religionswissenschaftlerin und Politologin Katja Dorothea Buck spricht in diesem Interview über den „3. Ökumenischen Bericht zur Religionsfreiheit – eine christliche Perspektive auf ein universelles Menschenrecht Bericht zur Religionsfreiheit“, der am 5. Juli 2023 vorgestellt wurde. Sie ist Mitglied der ökumenischen Arbeitsgruppe, die den Bericht erarbeitet hat. Sie finden den Bericht zum Download unten auf dieser Seite.

Katja Buck

Sind Christen die am meisten verfolgte Religionsgemeinschaft?

Katja Dorothea Buck: Das kommt darauf an, wie man rechnet. Zahlenmäßig ist das Christentum die größte Religion. Und leider gibt es in einigen Ländern auch Christenverfolgung. Aber es gibt Religionsgemeinschaften, wie zum Beispiel die Bahai‘, die Ahmadiyya oder die Jesiden, die sehr klein sind. In ihren Ursprungsländern Iran, Pakistan oder Irak werden oder wurden sie aufs blutigste verfolgt. Soll ich nun sagen, sie sind weniger verfolgt als die Christen, nur weil sie insgesamt weniger sind? Wer von der am meisten verfolgten Religionsgemeinschaft spricht, von dem möchte ich gerne wissen, was aus dieser Aussage folgen soll. Dass wir uns nur für Christen einsetzen?

Es wäre zumindest ein Ausdruck christlicher Solidarität…

Buck: Meinen Sie wirklich? Was heißt denn christliche Solidarität? Dass ich mich nur für Christen einsetze? Da lese ich die Bibel anders. Für mich bedeutet christliche Solidarität, dass ich mich als Christin aufgrund meines Glaubens für alle Menschen einsetze, die um ihres Glaubens willen verfolgt werden. Verfolgt zu werden ist doch kein Alleinstellungsmerkmal von Christen. Unter religiöser Verfolgung zu leiden, kann Anhängern jeder Religion passieren, auch denjenigen, die keine Religion haben. Und ganz nebenbei, keine Religion und auch nicht der Atheismus sind davor gefeit, selbst auf der Seite der Verfolger zu stehen. Oft ist es nur eine Frage der Mehrheit oder der Minderheit.  

Es ist also alles komplexer, als es auf den ersten Blick aussieht?

Buck: Ja. Und es ist den Christen nicht geholfen, wenn man sich in Kontexten, wo auch andere verfolgt werden, nur auf Christen fokussiert. Wir müssen die Mechanismen dahinter verstehen. In Indien werden nicht nur Christen in ihrer Religionsfreiheit eingeschränkt. Sondern auch Muslime. Genauso in China oder Eritrea, wo die Regime grundsätzlich alles, was mit Religion zu tun hat, kontrollieren und klein halten wollen.

Wie gehen die Kirchen in ihrem Bericht mit dieser Komplexität um?

Buck: Der Fokus liegt auf dem universellen Menschenrecht der Religionsfreiheit, das alle Menschen in ihrem Glauben oder ihrer Weltanschauung schützt. Die Kirchen haben aufgrund ihrer ökumenischen Verbundenheit mit Christen in aller Welt einen besonders guten Einblick in die Situation von Christinnen und Christen in verschiedenen Ländern. Diese Perspektive ist in den Bericht eingeflossen. Aber eben nicht nur unter dem Aspekt, ob Christinnen und Christen verfolgt werden, sondern wie es insgesamt mit der Religionsfreiheit in den einzelnen Ländern aussieht.

Schwächt das nicht das Engagement, wenn man den Fokus so stark auf alle Verfolgten ausweitet und sich nicht allein auf eine Gruppe konzentriert?

Buck: Im Gegenteil. Religionsfreiheit ist ein so komplexes Phänomen, dass man sich mit anderen zusammentun muss, wenn man etwas erreichen will. Verletzungen der Religionsfreiheit kommen in der Regel nicht allein vor, sondern sind häufig verbunden mit der Verletzung anderer Menschenrechte wie der Versammlungs- oder Meinungsfreiheit. Auch stecken hinter Verfolgung meist andere als nur religiöse Motive. Es kann um wirtschaftliche Interessen oder ethnische Konflikte gehen. Wer für solche Probleme eine Lösung sucht, sollte sich nicht allein auf Glaubensfragen konzentrieren. Damit erreicht man nichts.

Wie sieht es denn mit Zahlen aus? Kann man denn sagen, wie viele Christen weltweit verfolgt werden?

Buck: Mit Zahlen sollte man sehr vorsichtig sein. Natürlich wäre es hilfreich, man könnte mit wasserdichten Fakten schnell einen Überblick über ein komplexes Thema geben. Auch für mich, die ich Artikel zum Thema Religionsfreiheit schreibe, wäre das einfacher. Ich mache aber hinter jede Zahl, die im Zusammenhang mit Christenverfolgung genannt wird, ein großes Fragezeichen, weil damit in der Regel etwas belegt werden soll, was gar nicht gezählt werden kann. Denn was lässt sich wirklich zählen? Die Zahl der Ermordeten, ja, und die Zahl derjenigen, die inhaftiert werden aufgrund ihres Glaubens. Und vielleicht noch die Zahl der Häuser und Kirchen, die zerstört wurden. Dann hört es aber auch schon auf. Denn wie will ich die Menschen zählen, die diskriminiert oder ausgegrenzt werden? Da gibt es innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaft sehr unterschiedliche Grade der Betroffenheit. Die einen arrangieren sich irgendwie, die anderen leiden dagegen massiv darunter. Oder wie will ich zählen, wie viele Menschen von Vorurteilen oder Ausgrenzung betroffen sind? Und schließlich wird in vielen Ländern die genaue Anzahl an Mitgliedern von Religionsgemeinschaften gar nicht erfasst.

Warum nicht?

Buck: Zum einen ist es eine Frage der Kommunikations- und Verwaltungsinfrastruktur, ob solche Zahlen überhaupt erhoben werden können. Dann wird mit Zahlen aber auch gern Politik gemacht. Ein atheistisches Regime wie in China, Nordkorea oder Eritrea, das Religion an sich so klein wie möglich halten will, wird kaum zugeben, dass Religionsgemeinschaften trotzdem wachsen.

Dennoch werden immer wieder konkrete Zahlen genannt

Buck: Ja, und manchmal werden sie auch ganz schnell wieder dementiert. Wie Anfang des Jahres, als eine private Nachrichtenagentur in Nigeria veröffentlichte, dass 145 katholische Priester 2022 von Terroristen getötet worden seien. Diese Information ging viral. Kurze Zeit später dementierte die katholische Bischofskonferenz in Nigeria die Zahlen und nannte deutliche niedrigere Zahlen. Die Nachrichtenagentur aber hat ihre Zahlen im Internet selbst Wochen nach dem Dementi der Bischöfe nicht korrigiert. Deswegen kann ich nur wiederholen: Obacht bei Zahlen zum Thema Christenverfolgung!

Wie ist dann der EKD-Bericht aufgebaut?

Buck: Es gibt nicht nur Länderberichte, weil das eine Engführung wäre. Es geht darum, das Recht auf Religionsfreiheit im Zusammenhang mit anderen Themenfeldern klarer zu umreißen. Es gibt zum Beispiel ein Kapitel zu Religionsfreiheit und Migration. Das geht der Frage nach, inwiefern die Religionsfreiheit von Menschen auf der Flucht eingeschränkt wird. Oder Religionsfreiheit und Zivilgesellschaft, wie hängt das miteinander zusammen. Oder Religionsfreiheit und Gender – ein spannendes Thema, das leider oft gegeneinander ausgespielt wird, gerade von Frauenrechtsgruppen, die Religion für althergebracht ansehen und mit Kirchen nichts zu tun haben, weil diese in ihren Augen das Patriarchat verkörpern.

Tun sie das nicht manchmal auch?

Buck: Ja, aber das Recht auf Religionsfreiheit schützt nicht die Institution, sondern den Menschen. Es geht um ein Jedermannsrecht, das für jeden einzelnen gilt. Kirchen können sich deswegen nicht auf die Religionsfreiheit berufen, um für sich institutionelle Privilegien einzufordern.

Neben den Querschnittsthemen gibt es in dem Bericht auch Länderstudien. Nach welchen Kriterien wurden die Länder ausgewählt?

Buck: Wir haben bewusst nicht die Länder ausgewählt, die allgemein bekannt sind. Russland und Ukraine kamen aufgrund der Aktualität mit rein. Myanmar, China, Indien, Äthiopien, Eritrea, aber auch Türkei, Syrien, Israel und Palästina sind dabei. Es geht nicht darum zu zeigen, wo es am schlimmsten ist, sondern vielmehr darum, dass Religionsfreiheit in allen Kontexten ein Thema ist. Deswegen haben wir uns auch Deutschland und Dänemark angeschaut, um europäische Kontexte in den Blick zu nehmen.

Und wie sieht es nun mit der Religionsfreiheit in Deutschland aus?

Buck: Vom Grundgesetz her haben wir einen sehr hohen Schutz, was die Religionsfreiheit angeht. Das Problem, das wir in Deutschland wahrnehmen, ist eher, dass der gesellschaftliche Konsens beim Thema Religionsfreiheit abbröckelt. Das hängt mit einem falsch verstandenen Säkularismus zusammen. Es gibt eine allgemeine Tendenz, Religion ins Private abdrängen zu wollen. Religionsfreiheit bedeutet aber nicht, dass der öffentliche Raum frei von Religion zu sein hat. Religionsfreiheit heißt, dass ich meinen Glauben oder meine Weltanschauung frei, öffentlich und mit anderen zusammen ausüben kann.

Welche Konsequenzen hat dieser Trend?

Buck: Bei Rechtsfragen ist nichts in Stein gemeißelt. Wenn der gesellschaftliche Konsens fehlt, kann das die Politik beeinflussen und dann irgendwann auch die Gesetzgebung. Ein schwindendes Verständnis für Religionsfreiheit kann langfristig dazu führen, dass auch ein hoher Schutzstandard irgendwann ausgehöhlt wird.

Werden in Deutschland Unterschiede gemacht zwischen Religionsfreiheit für Christen und andere Religionen?

Buck: Die christlichen Kirchen haben mehr Möglichkeiten, allein beim konfessionellen Religionsunterricht an den Schulen oder bei der Kirchensteuer. Ich finde Kirchensteuern gut und wichtig. Es ist richtig, eine Institution finanziell zu unterstützen, damit sie sich auch sozial engagieren kann. Aber warum nicht gleiches Recht für alle Religionsgemeinschaften?!

Was soll der Bericht bewirken?

Buck: Wenn es gut läuft, erhöht er die Sensibilität für das Thema Religionsfreiheit nicht nur innerhalb der Kirchen, sondern auch bei denen, die nicht kirchlich oder religiös sind.

Werden sie es lesen?

Buck: Aus politischen Kreisen in Berlin hören wir, dass man mit großem Interesse auf den Bericht wartet, eben weil er sich grundsätzlich und fundiert mit dem Thema Religionsfreiheit auseinandersetzt. Nicht aus religiösen Gründen ist es wichtig, sich in punkto Religionsfreiheit ein bisschen auszukennen. Das ist eine rechtliche und eine gesellschaftliche Frage.

Und was ist das spezifisch Kirchliche beim Thema Religionsfreiheit?

Buck: Die Kirchen müssen für sich definieren, was Kirche sein bedeutet und warum die Kirchen beim Thema Religionsfreiheit eine eigene Stimme haben. Die Kirche ist keine zusätzliche NGO oder Menschenrechtsorganisation. Kirche hat eine eigene, theologisch begründete Perspektive. Das ist ihr Unique-Selling-Point und den muss sie mit einem geerdeten Selbstbewusstsein vertreten.

Hat der Bericht eine alltagstaugliche Relevanz?

Buck: ist eine große und wichtige Aufgabe, das Thema runterzubrechen. Mir ist es wichtig, dass die Themen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern auch zu den Menschen kommen. Deshalb biete ich Vorträge an, gehe in Gemeinden und diskutiere mit Menschen. Dabei lerne ich selbst auch immer wieder sehr viel.

Zum Beispiel?

Buck: Dass manchmal das Thema Verfolgung „romantisiert“ wird. Einmal war ich eingeladen zu einem Workshop mit der Überschrift: „Dankbar trotz Verfolgung“. Ich habe erst einmal schlucken müssen, als ich das Thema gehört habe. Aber solche Einladungen sind Anlässe, bei denen ich mit den Menschen in Dialog treten kann und manchmal auch theologisch argumentieren muss. Bei dem Workshop konnten wir zum Beispiel sehr gut miteinander herausarbeiten, dass wir bei einem so leidvollen Thema wie Verfolgung nicht sofort mit der Auferstehung anfangen dürfen. Karfreitag und vor allem die Leere des Karsamstags gehören dazu und müssen ausgehalten werden. Verfolgung ist selten ein Grund zur Dankbarkeit. Da hilft oft nur Schweigen und Mit-Aushalten. Verfolgung ist aber ganz gewiss ein Thema, das den Glauben herausfordert, auch wenn man selbst nicht direkt verfolgt wird.

Zum Bericht:

Am 5. Juli 2023 haben die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland den „3. Ökumenischen Bericht zur Religionsfreiheit – eine christliche Perspektive auf ein universelles Menschenrecht“ vorgestellt. Mit dem Text wollen die beiden Kirchen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass das Recht auf Religionsfreiheit jeden Menschen schützt, egal welchen Glauben er oder sie hat. Dies tun sie aus einer christlichen Perspektive heraus, nutzen die ökumenische Verbundenheit zu Christen in aller Welt und verstehen sich als eine Stimme im großen gemeinsamen Einsatz für die Menschenrechte weltweit.

Zur Person:

Katja Dorothea Buck ist Religionswissenschaftlerin und Politologin in Tübingen und schreibt seit vielen Jahren zu den Themen Religionsfreiheit, Mission, Ökumene und Christen im Nahen Osten in verschiedenen Publikationen. Seit drei Jahren ist sie berufenes Mitglied in der ökumenischen Arbeitsgruppe, die den „3. Ökumenischen Bericht zur Religionsfreiheit – eine christliche Perspektive auf ein universelles Menschenrecht Bericht zur Religionsfreiheit“ erarbeitet hat. 2022 hatte sie als Krankheitsvertretung auch die Geschäftsführung der Arbeitsgruppe von evangelischer Seite inne.  

Die Fragen stellte Magdalena Smetana.

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