Zwei Wochen lang lädt die Herrenberger Vesperkirche alle Menschen zum gemeinsamen Essen ins Evangelische Gemeindehaus ein. Auch mit Angeboten wie Handmassagen und Frisörterminen zeigt die Kirchengemeinde in der kalten Jahreszeit Fürsorge. Willkommen ist hier jede und jeder.
Die Eingangstür ist geschlossen, um die kalte Luft Anfang Februar auszusperren, aber länger als wenige Minuten bleibt sie nicht zu. Ein Mann tritt in das Evangelische Gemeindehaus in Herrenberg. „Ein Stammgast“, erklärt Mirjam Tardel, die dem Leitungsteam der ersten Vesperkirche im Landkreis Böblingen angehört. Als nächstes kommt eine Tagesgruppe mit Menschen mit Behinderung an.
Drinnen begrüßen Ehrenamtliche in leuchtend grünen Schürzen die Ankömmlinge und bedienen die Menschen mit Essen und Getränken – statt einen Preis zu zahlen, gibt jeder, was er kann. Eine Spendenbox steht auf einem Tisch.
Nach drei Jahren Planungs- und Wartezeit veranstalten der Evangelische und Katholische Kirchenbezirk sowie die methodistische Gemeinde gemeinsam ihre erste Vesperkirche.
Im großen Gemeindesaal sitzen ganz am Kopf eines der vier langen Tische die Rentnerinnen Ursula Langer, 66, und Heiderose Loritz, 65. „Die Atmosphäre ist schön, man kann sich unterhalten und das Essen ist richtig gut“, sagt Ursula Langer. „Außerdem kann man sich nachnehmen, so viel man möchte“, erklärt sie. Sie ist mit ihren vegetarischen Maultaschen schon fertig.
„Die Bedienungen sind sehr nett, alle werden gleich behandelt“, sagt Heiderose Loritz und isst ein Putensteak mit Kohlrabi und Rosmarinkartoffeln. Es gehe um die Gemeinsamkeiten innerhalb der Gesellschaft. Auch Obdachlose oder etwa ukrainische Flüchtlinge würden zum Essen hierherkommen, die soziale Schicht spiele keine Rolle.
Manuela Picco räumt gebrauchte Teller ab und trägt sie zur Durchreiche in die Küche. Sie sagt, die Vesperkirche sei als Ort wichtig für bedürftige Menschen oder Menschen, die Kontakt suchen. Sie könne den Menschen zeigen, dass sie wertvoll seien. „Eine Frau hat mir erzählt, dass ihr Mann gestorben ist, und war froh, dass sie von der Vesperkirche erfahren hat“, erzählt Manuela Picco. Die berufstätige Frau hat sich extra vier Tage zum Helfen freigenommen.
Auch Ingeborg Seeger, von Beruf Pflegerin, hat sich extra für die Vesperkirche Urlaub genommen und hat sichtlich Spaß an ihrem Engagement.
Täglich packen 30 Mitarbeitende mit an, geben für 120 Gäste Essen aus. „Ab ein Uhr ist das Essen aus“, erklärt Diakon Johannes Söhner von der Evangelischen Erwachsenenbildung Herrenberg, der die Vesperkirche mit einer Gruppe ins Leben gerufen hat. Rund 160 Ehrenamtliche helfen. Heute packt sogar eine ganze Schulklasse eines Herrenberger Gymnasiums mit an. „Viele Gemeindeglieder kommen“, erklärt Mirjam Tardel. Aber auch viele Bedürftige.
Für den acht Personen großen Leitungskreis wurde mit der Vesperkirche ein Traum Wirklichkeit. Dabei hätte das Projekt in drei Jahren Corona-Pandemie auch einfach versanden können. 2019 sammelte der „Gäubote“ mit einem Spendenaufruf in der Weihnachtszeit fast 100.000 Euro für eine Vesperkirche in Herrenberg, doch diese musste wegen der Pandemie abgesagt werden. Und auch die nächste und übernächste.
„Wir haben uns nie von der Idee abbringen lassen“, erklärt der evangelische Dekan des Kirchenbezirks, Eberhard Feucht. Die Gruppe hat während der Pandemie andere Wege gefunden, zu helfen. So hat sie etwa einen Gabenzaun realisiert. Er befindet sich in der Nähe des Bahnhofs und wurde gemeinsam mit der Evangelischen Erwachsenenbildung und Freunde, einem Herrenberger Verein, der sich für Obdachlose einsetzt, ins Leben gerufen. Seit drei Jahren liefert die Gruppe, die die Vesperkirche ins Leben gerufen hat, zudem die sogenannte „Samstags-Mahl-Zeit“ aus, ein Projekt, das sich aus einer mobilen Vesperkirche im Lockdown 2020 entwickelt hat.
Was sich aus der Not entwickelt hat, sorgte dafür, dass auch kirchenferne Menschen von der Vesperkirche erfuhren. „Dadurch haben uns viele kennengelernt, die sonst vielleicht gar nicht gekommen wären“, erklärt Söhner.
Dekan Eberhard Feucht, der die Idee hatte, die Vesperkirche ins Leben zu rufen, hat den Leitungskreis bei der Umsetzung unterstützt, sodass dieser immer auf offene Türen gestoßen ist.
Auch Diakonisches Werk Württemberg und die Nagolder Vesperkirche unterstützten das Planungsteam, das fest zusammengewachsen ist. „Wir haben uns vorher fast alle nicht gekannt und auf einmal sind wir eine Gemeinschaft geworden, in der sich jeder auf den anderen verlassen kann, das ist für mich ein gutes Zeichen, das zeigt, dass etwas funktioniert“, erzählt Johannes Söhner. Es habe sogar Menschen gegeben, die der Kirche kritisch gegenüberstanden, die aber zurückkehren wollten, wenn eine Vesperkirche veranstaltet werde. Weil das für sie sei, was Kirche ausmache, erzählt er.
Kurz vor halb zwei Uhr. An der Tür zum Gemeindezentrum verabschiedet Gisela Bührer herzlich die Gäste. Die Herrenberger Kirchengemeinderätin freut sich, wie gut die Vesperkirche angenommen wird. „Die Menschen sehnen sich nach warmem Essen und Unterhaltung“ sagt sie. „Du musst auch schaffen“, sagt ein Mann zu ihr. „Das macht aber Spaß“, sagt sie.