07.03.2023

Das ganze Leben zur Sprache bringen

Beim Musikfestival „Create“ haben die Teilnehmer Werkzeug an die Hand bekommen, um Musik zu komponieren und in der Gemeinde einzusetzen

Wohin entwickelt sich das moderne Gemeindelied? Steckt die Kultur des Worship-Liedes in einer Krise? Und welche Impulse braucht es für die Weiterentwicklung? Albert Frey, Arne Kopfermann und Hans-Joachim Eckstein haben darüber beim Festival „Create“ auf dem Schönblick gesprochen. Sie wollen Mut machen, neue Lieder für die Gemeinde zu entwickeln und das notwendige Werkzeug an die Hand geben.

Beim Festival „Create“ konnten viele Interessierte Workshops rund um neue Gemeindelieder, Stimmbildung, Songwriting und Marketing besuchen.

Die Worship-Kultur war zu einseitig

Das Festival sollte Impulse für die Weiterentwicklung des Gemeindeliedguts geben. Und dabei sollten die verschiedenen Prägungen – von traditionell bis Worship – voneinander lernen. In vielfältigen Workshops konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vieles über Songwriting, den richtigen Platz für die Lieder im Gottesdienst oder in der Gruppe, über Musik und Technik erfahren. Wo stehen die Gemeindelieder? Und wo kann es hingehen?

Der Liederdichter Albert Frey sieht die Worship-Kultur, aus der er selbst kommt, in der Krise. Obwohl sich viele Menschen zunächst dafür begeisterten, würden sie häufig nach einer Weile wieder aussteigen und seien davon frustriert. „Es hat sie nur eine Phase ihres Lebens begleitet und das ist schade“, erklärt Albert Frey.

Wie können neue Lieder ins klassische Gottesdienstformat eingebettet werden? Darum ging es in einem Workshop des Pfarrers und Musikers Matthias Hanßmann.

Frey vermutet, dass die Inhalte der Lobpreislieder nicht vielfältig genug seien. „Die Worship-Kultur war zu eng, zu einseitig.“ Er erklärt das mit den drei Phasen des Glaubens, die sich im Laufe des Lebens nacheinander herausbilden und auch gleichzeitig verlaufen können:

  • 1. Phase: Auf die Freude und das Getragensein, den kindlichen Glauben am Anfang, folgt im Erwachsenenalter die Krise des Kinderglaubens.
  • 2. Phase: In der zweiten Phase verändert sich der Glaube, weil der Mensch es mit den dunklen Seiten des Lebens, dem Bösen, zu tun bekommt. Er oder sie muss mit Leiderfahrungen umgehen, wird sich menschlicher Fehler und Schwächen bewusst, und Zweifel werden laut.
  • 3. Phase: In der dritten Phase folgt die Überwindung der Krise, es ist die integrierende Phase, in der trotz des Bösen in der Welt an Jesus Christus geglaubt wird.

Die Lobpreismusik sei bisher zu sehr auf die erste naive Phase fixiert, findet Frey. Das Schillernde des Lebens, zu dem gehöre, dass der Glaube auf die Probe gestellt werde, fehle im Lobpreis-Repertoire. „Wir springen manchmal zu früh in die dritte Phase, bei Kindern nennt man das altklug.“ Frey findet: „Wir dürfen uns auch für die dunklen Phasen des Glaubens Zeit nehmen.“

„Von der Bibel zum Liedtext“ hieß ein Workshop, den Albert Frey und Hans-Joachim Eckstein gemeinsam geleitet haben.

Menschen in einer Vielzahl von Lebenssituationen ansprechen

„Es ist notwendig, den Lebensbogen in Liedern zu erfassen“, sagt auch der Theologe und Liederdichter Hans-Joachim Eckstein. Lieder, die auch in der Krise tragen würden, seien wichtig, so wie alte Choräle und Lieder von Paul Gerhardt: „Lieder, die wir als Kinder schon geliebt haben und als Erwachsene oder auf dem Sterbebett noch singen.“ Damit würden Menschen in einer Vielzahl der Lebenssituationen angesprochen. Dem Glauben so Worte zu verleihen, sei auch wahrhaftiger und dadurch glaubwürdiger.

Auch der Songwriter Arne Kopfermann, der selbst einen Schicksalsschlag erfahren hat, schließt sich der Kritik an, die Worship-Kultur müsse vielfältiger werden. „Jeder, der die Psalmen kennt, weiß, dass es eine riesige Diskrepanz gibt zwischen den Psalmen und der Worship-Kultur“, sagt er, „weil wir es geschafft haben, 65 Klagepsalmen fast gänzlich aus unserer Worship-Kultur herauszuredigieren, weil wir Angst haben, dass es nicht gut ankommt, ehrlich zu sagen: ‚Ich bin auf dem Weg des Vertrauens, ich mache zwei Schritte vor und einen zurück.‘“ Kopfermann fragt: „Wie können wir Songs schreiben, die so poetisch und so schön sind, dass man sie singen mag, obwohl sie einem die bittere Pille verkaufen, dass unsere Nachfolge nicht so heilig ist wie Gott, dass unser Vertrauen in Gott nicht so ausgeprägt ist, dass wir nicht ständig seine Verheißungen ergreifen?“ Kopfermann vermutet, es gebe eine Angst, in der zweiten Glaubensphase stehenzubleiben.

Auch von dem singen und sprechen, was nicht gut läuft

Frey sagt: „Das Beste, was wir tun können, wenn wir öffentlich sprechen und singen, ist, dass wir uns trauen, von dem zu singen und zu sprechen, was nicht gut läuft, damit tun wir Gott einen Gefallen. Weil das Türen öffnet und ehrlich und zugänglich wird.“ Eckstein ergänzt: „Und weil das Menschen abholt, sodass sie sich nicht ausgegrenzt fühlen.“ Das gilt nicht nur für das Schreiben und Singen der Lieder, sondern auch für die Gottesdienst- oder Anbetungsleitung, bei der nicht nur „Heldengeschichten“ erzählt werden sollten, sondern auch gesagt werden solle, woran man knabbere und wofür noch keine Lösung gefunden worden sei, man aber – vielleicht – dennoch an Gott festhalte. Oder: Wenn ein Loblied gesungen wird, könne auch erzählt werden, dass es in der letzten Woche nicht gut gelaufen sei. „Wir wollen das ganze Leben zur Sprache bringen“, erklärt Frey.

Liederdichter Arne Kopfermann ist der Ansicht, wenn das Böse aus dem Lobpreis ausgeklammert werde, entstehe eine Sonntagsspiritualität statt einer Alltagsspiritualität und ein Zwiespalt im Leben.

Der Lobpreisdichter Arne Kopfermann betont, wie wichtig es ist, dass Gemeindelieder keine „Weltflucht“ sind. Er fragt: „Wie geht es, dass wir auf Not und auf Trauer nicht mit Weltflucht reagieren?“ Der Schlager, das derzeit meistkonsumierte Genre in der deutschen Musik, sei „überzeichnete Realität“ und der Versuch, „ein bisschen heile Welt in eine überwiegend kaputt empfundene Welt hineinzubringen“. Auch Lobpreismusik werde teilweise zu Hause als Musik angehört, um Hoffnung fassen zu können.

Kopfermann sagt: „Manchmal laufen wir lieber zurück und nehmen diese vermeintliche Sicherheit an, dass alles gut ist, obwohl wir eigentlich wissen, wenn wir unsere Welt anschauen, dass es Zerstörung in unserer direkten Nachbarschaft gibt. Es schreit zum Himmel! Wir können uns den Luxus nicht leisten, im Gottesdienst nur Lieder zu singen, die Gott groß machen, so als ob sie gar nicht wahrnehmen, was an unserer Welt zerbrochen ist und nach Erbarmen schreit. Wir können nicht nur Lieder singen, die sagen ‚Du bist der Sieger, der Machthaber, du hast alles in deiner Hand‘ und die eigene Ohnmacht nicht artikulieren, die eigene Wut, die man empfindet darauf, dass die Welt ein Auslaufmodell ist.“

 „Unser Herz blutet, weil Gottes Herz blutet, deshalb müssen wir diese Dinge ausdrücken“, findet Kopfermann. „Wir müssen Worte finden, mit denen Trost ausgedrückt werden kann, mit denen Menschen eine Heimat finden in Gott, mit denen wir durch das Leid hindurchgehen können und nicht das Leid wegdrücken.“ Wenn das Böse aus dem Lobpreis ausgeklammert werde, entstehe eine Sonntagsspiritualität statt einer Alltagsspiritualität und ein großer Zwiespalt im Leben.

Frey hat auch festgestellt, dass es zur Zeit der Corona-Pandemie viele Lieder mit dem Bild des Gottes gab, der Wunder tut und auf dem Wasser geht – obwohl die Corona-Pandemie viel mehr Leid erzeugt hat als Wunder.

Nicht suggerieren, perfekt zu sein

An der Lobpreiskultur kritisiert Arne Kopfermann auch, dass in den Anbetungsliedern die Nachfolge manchmal auf dieselbe Weise besungen werde, wie Gott angebetet werde: „Was passiert, wenn wir über unsere Nachfolge in denselben Superlativen singen, in denen wir von Gott singen? ‚Ich gehe mit dir durch Dick und Dünn, ich gebe dir alles hin, du bedeutest mir alles.‘ Was heißt das für meine Frau? Bedeutet die mir dann nichts?“ Auch, dass man nicht nur Gott, sondern sich selbst mit lobe, komme häufig vor, sagt Frey. „Das Angewiesenbleiben auf Gnade ist zentral“, betont Eckstein. Man solle in Liedern nicht suggerieren, perfekt zu sein.

Die Liederdichter wünschen sich eine größere Breite an Themen. Petrus, der erste Jünger Jesu, werde in der Bibel ständig in seinen Schwächen gezeigt, sagt Frey. „Und wenn wir das in unsere Liedkultur hineinbringen, ist das so viel stärker.“ Und nicht nur von der Erlösung, sondern auch von der Schöpfung könnten Menschen singen und den Schöpfer loben.

„Die Lieder, die wir haben, sind alle gut, aber sie sind in ihrer Gesamtheit nicht ausreichend“, sagt Frey. „Ein Lied muss nicht verschiedene Aspekte haben. Es kann eine Kerbe schlagen, aber dann brauchen wir eben andere Lieder, die das ausbalancieren.“ Alle drei wünschen sich auch eine größere Breite an Gattungen. „Es braucht nicht nur Lob, sondern auch Dank, Bitte, Fürbitte, Klage und Zuspruch“, sagt der Theologe Hans-Joachim Eckstein. Und: „Wir brauchen wir nicht nur den Blick auf Gott, sondern auch den Blick auf uns Menschen, auf das Zwischenmenschliche.“ Es brauche nicht nur das „ich“, sondern auch das „wir“.

Frey ermutigt dazu, dass Songs ruhig anders sein dürften: „Es sind oft die Lieder, die erst etwas Fremdes haben, die dann Menschen treffen.“

„Es ist notwendig, den Lebensbogen in Liedern zu erfassen“, sagt der Theologe und Liederdichter Hans-Joachim Eckstein (rechts). Neben ihm steht Liederdichter Albert Frey.

Es gibt einen Mangel an gemeinsam leicht singbaren Liedern

Frey und Eckstein wollen auch Brücken zwischen den musikalischen Prägungen bauen. „Ich habe in meiner Lobpreisbegeisterung die Neuen Geistlichen Lieder lange geringgeschätzt“, sagt Frey. Diese Lieder wie auch ein Teil der Liedermacher-Kultur und etwa des Kirchentag-Liedgutes, stünden stärker für die zweite Phase des Glaubens, erklärt Frey. „In der frommen Welt haben wir sie manchmal geringgeschätzt und auch vorschnelle Urteile gefällt, indem wir zum Beispiel gesagt haben, ein Lied habe keine Kraft, weil Jesus nicht im Mittelpunkt stehe“, erklärt Albert Frey. Wichtig sei, voneinander zu lernen.

Frey sagt: „Ich sehe die Herausforderung für die Landeskirche darin, wirklich das Beste aus allen Welten zu integrieren, ohne Scheuklappen, und sich überall umzuschauen.“ Die traditionelle Kirchenmusik rede manchmal die schönen und einfachen Dinge kaputt. Es gebe eine Intoleranz auf beiden Seiten, bestätigt Eckstein.

Musik ist ein wesentlicher Teil des Gemeindelebens und des Glaubens. Den Wunsch, dass Gemeindelieder mit der Zeit gehen sollen, teilen viele. Doch neue Gemeindelieder zu entwickeln, ist nicht einfach. „Es gibt einen Mangel an gemeinsam leicht singbaren Liedern“, sagt Eckstein. Gemeindelieder sollten nicht verkünstelt und kompliziert sein. Dafür benötigten Songwriter „Mut zur Singbarkeit“. „Die Vereinfachung ist ein Schritt von der zweiten in die dritten Glaubensphase“, erklärt Frey. Es komme darauf an, einfach, aber nicht naiv zu schreiben.

Große Bedeutung des gemeinsamen Singens sehen

Die Liederdichter wollen mit ihrem Appell auch die Sinne schärfen, Lieder bewusster auszuwählen und zu überlegen: Welches Repertoire haben wir in Gemeinde und Chor? Welche Kriterien führen dazu, dass wir ein Lied auswählen oder nicht? Und was ist der richtige Platz für ein Lied in Hauskreis oder Gottesdienst? Und Eckstein will dazu ermutigen, die große Bedeutung des gemeinsamen Singens zu sehen – ganz im Gegensatz zum verbreiteten konsumierenden Umgang damit.

Frey überlegt: „Die vielfältigen Krisen unserer Zeit, der Kirche und der Worship-Kultur zwingen uns dazu, selbstkritisch zu prüfen, was wirklich Substanz hat und was Illusion war. Und wenn die Illusionen wegfallen, ist das hilfreich. Denn Gott benutzt immer wieder die Krisen in der Geschichte, um zu läutern und das Wahre hervorzubringen – aus dem Formelhaften, Ungefüllten und Leeren.“

Info

In diesem Artikel geht es sehr ausführlich um die Worship-Kultur, weil die Veranstalter der „Create“ besonders an diese Kultur einen Appell richten, und weil sie in Teilen auch aus dieser Kultur kommen. Außerdem ist es eine Kultur, an der sich auch viele Menschen reiben.

Beim Festival „Create“ kamen Interessierte aus unterschiedlichen Traditionen zusammen, um miteinander zu diskutieren und Workshops rund um Social-Media-Strategie, Berufung von Songwritern und Musikern heute und Songmarketing in Streaming und Social Media zu besuchen, um Gemeindelieder zu dichten und um sich damit zu beschäftigen, welche Rolle diese in Gottesdiensten spielen.

Bei einer Songchallenge wurden aus vielen eingereichten Liedern die besten ausgewählt. Die drei Gewinner sind: 1. Chris Stühn: „Die Liebe bleibt“, 2. David Stirngranat: „Jahwe“ und 3. Jennifer Masala: „Send mich aus“

Das Festival sollte dazu ermutigen, die neuen Gemeindelieder weiterzuentwickeln. Im kommenden Jahr werden von den Veranstaltern Seminare angeboten. Im übernächsten Jahr folgt dann wieder ein großes Festival.

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