Was belastet Kinder und Jugendliche? Was bedeuten die gesellschaftlichen Krisen für sie? Und welche Folgen hatte die Corona-Pandemie für ihre Psyche? Menschen aus der Landeskirche, die Kinder und Jugendliche in schwierigen Situationen beraten, erzählen von ihrer Arbeit.
Die Evangelische Mörike-Schule in Stuttgart. Rund 800 Schülerinnen und Schüler besuchen das Gymnasium mit Aufbaugymnasium und die Realschule. Sie können hier nicht nur lernen und leben, sondern erhalten bei Bedarf auch fundierte psychologische Unterstützung: Wenn sie etwas bedrückt, können sie ein Beratungsgespräch mit Karin Faigle ausmachen.
Die Schulpsychologin begleitet im Moment 40 bis 50 Kinder und Jugendliche. „Ich bin zurzeit sehr ausgelastet“, sagt sie. Ganz unterschiedliche Themen liegen den Schülerinnen und Schüler auf der Seele, darunter Probleme, psychische Krankheiten und Konflikte, erklärt sie.
„Der größte Teil der Fälle hat keine direkten Schulbezug.“ Psychologische Themen unterschiedlich schwerer Ausprägung, wie Stimmungstiefs und Ängste, belasten viele Schülerinnen und Schüler.
„Unterstufenschülerinnen und -schüler beschreiben es mehr als Kopf- und Bauchweh.“ Diese Belastungen könnten bis zu selbstverletzendem Verhalten und Suizidgedanken unterschiedlicher Ausprägung gehen, erklärt die Schulpsychologin.
Auch spannungsgeladene Verhältnisse in der Familie belasten Schülerinnen und Schüler, etwa Konflikte mit den Eltern oder Geschwistern.
Und vor allem in der Pubertät werden Fragen rund um die eigene Entwicklung laut. Ein Teil der Schülerinnen und Schüler, die sich an Karin Faigle wenden, will an seinem Selbst- und Fremdbild und der eigenen Selbstsicherheit arbeiten: Werden die Kinder und Jugendlichen so gesehen, wie sie gesehen werden möchten?
Die Corona-Pandemie hat die Belastungen der Schülerinnen und Schüler verstärkt. „In der ersten Welle nach den Lockdowns waren Ängste in der Schule sehr häufig Thema“, sagt Karin Faigle. Häufig sei es zuerst um Prüfungsangst gegangen. Aber dann habe sich oft herausgestellt, dass die Schüler auch in anderen Situationen Ängste empfunden haben. Weil Gewohnheiten weggefallen seien, haben eigentlich bekannte Situationen Stress ausgelöst.
Ob Klassenarbeiten oder eine Party: „Dann ist die Hürde vor Stresssituationen oder Situationen, die als belastend empfunden werden, umso größer, als wenn man routiniert ist, weil man das regelmäßig macht.“ Als sich das Leben wieder normalisiert habe, hätten sich auch die Ängste wieder auf ein normales Niveau zurückentwickelt, vermutet die Psychologin. Aber dafür hätten Stimmungstiefs zugenommen.
„Vielleicht ist man sich jetzt aber auch bewusst, dass es viele Einschränkungen gab und diagnostiziert manches anders“, sagt Karin Faigle. Sie erklärt: „Als sie über viele Monate keinen Ausgleich hatten und sich in der Freizeit nicht etwa in Gruppen treffen konnten, hat sich das für Jugendliche viel länger angefühlt als für Erwachsene. Die Zeit war für sie ganz anders zu überblicken.“ Es sei nicht verwunderlich, dass diese Phase für junge Menschen Nachwirkungen habe.
Und wie beeinflussen die gesellschaftlichen Krisen die Kinder und Jugendlichen? „Ich glaube, dass es viele Jugendliche gibt, die sich engagieren und kümmern. Aber Gefühlen wie Mutlosigkeit, daraus erwachsenden Ängsten oder einem ständigen Gedrücktsein begegne ich nicht.“ Und sie bekräftigt: „Mein Eindruck ist eher, dass Kinder und Jugendliche mit dem Gefühl, dass sie aktiv werden müssen, darauf reagieren.“
Im „Haus 44“ der Evangelischen Jugend in der Stuttgarter Stadtmitte befindet sich auch das Evangelische Jugendpfarramt Stuttgart mit Pfarrer Matthias Weida und Jugendreferent Christoph Werkmann. Sie organisieren das Online-Seelsorgeangebot „nethelp4u“, bei dem Jugendliche, sogenannte „Peers“, Gleichaltrige in Krisen beraten. Die Hilfesuchenden können sich anonym per E-Mail melden – die Seelsorgenden können ihre IP-Adresse nicht einsehen.
Die Jugendlichen erhalten von einem der rund 20 Ehrenamtlichen eine Antwort, meistens innerhalb der nächsten 24 Stunden. Statt Ratschläge zu verteilen, lassen die „Peers“ sich auf die Situation der Jugendlichen ein und versuchen, Personen in deren Umfeld auszumachen, denen sich diese anvertrauen können. Und sie versuchen, die Jugendlichen zu überzeugen, sich an Therapeuten zu wenden.
Vor der Pandemie hat häufig Leistungsdruck die Jugendlichen belastet – nicht nur in der Schule, sondern auch im Sozialleben. Weil Geld für tolle Urlaube und Klamotten gefehlt habe, hätten sich junge Menschen außen vor gefühlt. Jugendreferent Christoph Werkmann sagt: „Jugendliche wollen das Gefühl haben: Ich kann etwas. Ich bin wer. Ich kann dazugehören und mitreden.“ Auch von Einsamkeitserfahrungen haben viele E-Mail-Schreiber berichtet.
Sexualisierte Gewalt und andere Gewalterfahrungen waren schon immer ein häufig auftretendes Thema bei dem Seelsorgeangebot. „Nach der Pandemie hat das allerdings nochmal sehr stark zugenommen, weil Familien, die in beengten Verhältnissen wohnen, während der Pandemie noch einmal viel enger zusammenleben mussten“, sagt Christoph Werkmann. „Die Nerven lagen ganz oft blank und das haben oft Kinder und Jugendliche ausbaden müssen.“
Das Beratungsangebot nimmt Kinder und Jugendliche, die in Krisen stecken, ernst. „Jeder Mensch ist mit den Krisen und den Problemen, in denen er steckt, angenommen“, erklärt Jugendpfarrer Matthias Weida, mit welcher Haltung die ehrenamtlichen Seelsorgenden den jungen Menschen begegnen und ergänzt: „Gerade darin ist jeder Mensch wertvoll.“
„Die Covid-Pandemie hat ganz nachweislich die psychische Befindlichkeit von Kindern und Jugendlichen sehr verändert“, bestätigt Psychologin Dr. Esther Stroe-Kunold, die stellvertretende Leiterin der Landesstelle der Psychologischen Beratungsstellen in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.
Studien haben gezeigt, dass die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen, beispielsweise Depressionen und Angst, zugenommen hat.
„Das Großwerden ist ja ein ständiges eigenständig Werden, sich Ablösen, Experimentieren, Herausfinden und sich in der Peergroup bewegen.“ Doch das hat die Pandemie verhindert. „Die Kinder waren wieder sehr an Zuhause gebunden, sie konnten sich wenig verabreden und die Welt wenig außerhalb der Familie für sich erkunden.“ Und auch das Homeschooling habe ihnen viele Möglichkeiten genommen, die die Schule jenseits des Lernens biete.
Jedes Jahr wird in den psychologischen Beratungsstellen erhoben, warum Erziehungsberatung aufgesucht wird. Unter den Anlässen, die dort abgefragt werden, geben fast 28 Prozent an, durch familiäre Konflikte belastet zu sein. Darauf folgen mit 24 Prozent Entwicklungsauffälligkeiten und seelische Probleme. Weitere wichtige Anlässe sind Problemlagen der Eltern und die Erziehungskompetenz der Eltern.
Weil sich die Lebenszusammenhänge, zum Beispiel familiäre Strukturen, verändern, müssten sich Kinder und Jugendliche heute in einem „komplexeren sozialen Raum orientieren“, erklärt Stroe-Kunold. Im Falle einer Trennung sei für die Kinder vor allem entscheidend, dass sie eine gute Bindung zu den Eltern leben könnten.
Welche Themen prägen die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen noch? Die Psychologin Esther Stroe-Kunold glaubt, dass auch die Flut an verfügbaren Informationen über gesellschaftliche Ereignisse Kindern und Jugendlichen schaden kann. „Kinder und Jugendliche sind diesen Reizen einfach ganz unmittelbar und ungefiltert ausgesetzt.“
Sie glaubt, sie benötigen die Fähigkeit, Informationen zu sortieren und sich davon abzugrenzen. „Es braucht eine gute Rahmung und Strukturierung von Erwachsenenseite je nach Alter.“ Außerdem sei das Spektrum an Personen, die man wahrnehme, online gestiegen – und dadurch auch die Bandbreite an Personen, mit denen man sich vergleichen könne. Aber: „Was sind das für Modelle für Heranwachsende?“
Depressive Menschen oder Menschen mit einer Essstörung können sich im Internet leicht über diese Themen informieren: „Die Schwellen haben sich reduziert für Informationen und das kann zu einem Beschleuniger werden“, sagt die Psychologin. Doch Stroe-Kunold hat auch festgestellt, dass Kinder und Jugendliche durch ihre Erfahrung im Umgang mit Medien informierter und geschulter in sozialer Interaktion sind als Generationen zuvor.
„Kinder und Jugendliche sind mit einer höheren Komplexität konfrontiert“, sagt die Psychologin. Die gesellschaftlichen Krisen – von Klimawandel bis zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – hinterlassen in den Familien ihre Spuren: „Der Optimismus ist insgesamt etwas gedämpfter.“ „In welche Zukunft gehen wir? Was bedeuten diese gesellschaftlichen Veränderungen für mich?“ Das würden sich viele junge Menschen fragen.
An der Elterngeneration könnten sich junge Menschen nicht mehr ohne Weiteres orientieren. „Die Elterngeneration hat ja eine recht luxuriöse Zeit erlebt, ohne Krieg und mit einer weitreichenden Verdrängung der klimabezogenen Konsequenzen.“ Beides werde nun „in der Wahrnehmung unausweichlicher“. Die Strategien der Eltern würden nicht mehr greifen, um die Zukunft zu bewältigen. „Die Verunsicherung nimmt zu“, sagt die Psychologin.
Stroe-Kunold befürchtet, dass Kinder und Jugendliche belasteter sein könnten, weil bei ihnen durch den starken Eindruck der Veränderungen das Gefühl der Selbstwirksamkeit abnehmen könnte. „Ein begünstigender Faktor für die Entwicklung von Depressionen ist: Wie wirksam bin ich? Also wie viel Kontrolle habe ich, wie viele Möglichkeiten stehen mir zur Verfügung? Oder bin ich letztlich eigentlich mehr oder weniger ohnmächtig und ausgeliefert?“
Und auch Ängste könnten dadurch zunehmen, glaubt sie: „Wenn ich weniger Selbstwirksamkeit und weniger die Möglichkeit der Steuerung habe, dann entwickelt sich auch mehr Angst, weil ich nicht kontrollieren kann, was geschieht.“ Aber sie hat auch festgestellt: „Es wird auch mehr über die Belastungen von Kindern und Jugendlichen gesprochen.“
Kirchengemeinden sind herzlich eingeladen, Texte wie diesen von www.elk-wue.de in ihren eigenen Publikationen zu verwenden, zum Beispiel in Gemeindebriefen. Sollten Sie dabei auch die zugehörigen Bilder nutzen wollen, bitten wir Sie, per Mail an kontakt