Anja Lobmüller ist seit März Asylreferentin beim Evangelischen Asylbüro in Stuttgart. Wie setzt sie sich bei dieser Einrichtung für Geflüchtete ein? Welche Hilfe benötigen die Ukrainerinnen und Ukrainer, die zurzeit in Deutschland Schutz suchen? Und was ist gute Integration?
Lobmüller: Ich arbeite für das Asylpfarramt, ein evangelisches Sonderpfarramt zu Asylfragen des Kirchenkreises Stuttgart und der Landeskirche. Dort berate ich Menschen, die geflüchtet sind, und veranstalte für sie Angebote. Zurzeit nimmt die Ukraine-Hilfe sehr viel Raum ein.
Außerdem leite ich zusammen mit dem Asylpfarrer Joachim Schlecht den „Arbeitskreis Asyl Stuttgart“. Er trifft sich einmal im Monat im Plenum. Dabei wird immer ein Thema aus der Flüchtlingsarbeit von einem Referenten aufgearbeitet und es gibt einen rechtsanwaltlichen Input. Ich fördere die Vernetzung der Ehrenamtlichen im Arbeitskreis und unterstütze die Öffentlichkeitsarbeit.
Lobmüller: Mich erfüllen die Vielfalt der Aufgaben und die Vielfalt der Menschen, mit denen ich zu tun habe. Sowohl die Begegnung mit den geflüchteten Menschen als auch die mit den Helfenden ist sehr bereichernd.
Wenn Menschen zur Beratung kommen, haben sie nie nur ein Problem, sondern viele Problemlagen, die sich daraus ergeben. Das zu sortieren und mit ihnen zusammen zu überlegen, was es für sie jetzt an wichtigster Stelle braucht, mache ich unheimlich gerne.
Lobmüller: Am Weltflüchtlingstag am 20. Juni haben wir einen Ausflug nach Freiburg gemacht, wo aus diesem Anlass ein großer ökumenischer Gottesdienst der vier baden-württembergischen Kirchen, der württembergischen und badischen Landeskirche, des Bistums Rottenburg-Stuttgart und des Erzbistums Freiburg, stattgefunden hat. Es war toll, wie unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer, von denen viele kaum Deutsch konnten, sich miteinander ausgetauscht haben.
Lobmüller: Wir haben seit drei Monaten eine Praktikantin, die Ende März aus Kiew geflohen ist. Sie ist Juristin und musste alles zurücklassen. Sie will aber nicht nur herumsitzen, sondern sich bei uns aktiv einbringen. Dreimal in der Woche arbeitet sie deshalb bei uns mit. Sie hat eine tolle Verbindung in die Community der Ukrainerinnen und Ukrainer, die über Messengerdienste sehr gut vernetzt ist, und kann gut Englisch, sodass sie für uns Infos ins Ukrainische übersetzen kann.
Aber es berührt mich sehr, wenn sie von ihrer Familie berichtet, die noch in Cherson lebt. Manchmal zeigt sie mir Fotos, wie es in ihrer Heimat aussieht oder berichtet von ihrer Mutter. Vor kurzem hat sie erzählt, dass sie von ihrer Familie einen Anruf bekommen hat, dass ihre Mutter doch nicht fliehen kann. Weil wir Alltag zusammen teilen, berührt mich ihre Situation besonders. Sie ist ungefähr so alt wie ich. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre in ihrer Situation – unvorstellbar.
Lobmüller: Sie brauchen vor allem Orte, um sich zu begegnen, und Menschen, bei denen sie Informationen erhalten. Dann klären sie vieles für sich. Ab Donnerstag bieten wir einmal im Monat ein Meet & Cook an. Wir haben bei uns im Haus eine Küche. Dort können die Menschen dann selbst kochen, einander einladen und sich treffen. Außerdem überlegen wir, ob wir eine Handarbeitsgruppe ins Leben rufen – eine Idee unserer Praktikantin.
Gut klappt das „Arrival Center“ in der Heilbronner Straße am Stuttgarter Hauptbahnhof mit einem medizinischen MedPoint und dem Sozialamt. Schwer auszuhalten ist für viele Ukrainerinnen und Ukrainer, dass sie bis zu acht Wochen auf ihre Fiktionsbescheinigung, den Nachweis des vorläufigen Aufenthaltsrechts, warten müssen. Nur mit dieser Bescheinigung kann man arbeiten und hat einen Aufenthaltsstatus. Auch die Bonus-Karte ist daran gekoppelt. Tatsächlich ist das aber im Vergleich zu anderen Geflüchteten keine besonders lange Wartezeit für so eine Bescheinigung.
Pfarrer Joachim Schlecht setzt sich gerade sehr für People of Color ein, bei denen es mit der Aufnahme nicht gut läuft, weil bei den Ämtern Unterschiede zwischen den Geflüchteten gemacht werden. Auch ukrainische Sinti und Roma haben es sehr schwer, alle nötigen Bescheinigungen zu bekommen, also Fiktionsbescheinigungen zu erhalten und beim Jobcenter integriert zu werden. Wir sind hier für alle da.
Lobmüller: Nein, aber ein Teil der Geflüchteten hat Angst, dass ihre Themen hinunterfallen, dass sie nicht gut behandelt werden und dass die Ämter länger brauchen. Das sorgt für Unzufriedenheit. Aber auch 2016/2017 haben die Menschen viel Unterstützung erhalten.
Dadurch, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer durch eine gesetzliche Regelung gute Möglichkeiten erhalten haben, hier Schutz zu finden und zu bleiben, wird in Kreisen, die sich mit Asyl beschäftigen, zurzeit stark die Frage diskutiert, warum nicht alle dieselben Chancen haben, die hier aufgenommen werden und sich integrieren wollen. Seitdem ich hier arbeite, sehe ich, wie wichtig es ist, dass alle die Möglichkeit haben, ein gutes Leben zu führen. Und dass es christliches Handeln ist, das zu ermöglichen.
Lobmüller: Es braucht Zeit und es braucht Sprachkenntnisse, aber ohne den Druck, der häufig verbreitet wird, dass das schnell passieren müsse und die Menschen sich ganz angleichen müssten. Integration ist etwas Gegenseitiges. Ich finde, es wird zum Beispiel beim „Festival der Kulturen“ der Migrationsvereine in Stuttgart jedes Jahr deutlich, dass jede Kultur in so einer großen Gesellschaft wie Deutschland ihre Berechtigung hat.
Ich fände es schön, wenn man es mehr als Stärke sehen würde, wenn Menschen zu uns dazukommen, auch beim Familiennachzug, der sehr schwierig ist. Migration fordert nicht nur Integrationsleistungen. Sondern es ist ein Gewinn für ein Land, wenn verschiedene Erfahrungen und Menschen zusammenkommen.
Lobmüller: „Empowerment“ ist wichtig, also, dass Menschen zur Selbsthilfe befähigt werden. So funktioniert auch der „Arbeitskreis Asyl“: Dort helfen die Menschen, die schon länger da sind, den anderen. Außerdem ist es wichtig, gegenseitig die Eigenheiten der anderen Kultur anzuerkennen und gemeinsam daran zu wachsen.
Lobmüller: Kirchengemeinden haben oft sehr tolle Räume, die sie Gruppen zur Verfügung stellen können. Sie können diese Räume öffnen. Ich kenne zum Beispiel eine Frau, die angefangen hat, für Ukrainerinnen und Ukrainer, die in einem Hotel in Stuttgart-Möhringen leben, in einer Kirchengemeinde Yoga-Kurse anzubieten. Oder Menschen, die in einem Hotel untergebracht sind, fehlt die Suppe, die sie zu Hause kochen. In Kirchengemeinden gibt es oft eine Küche, die diese einfach zur Verfügung stellen können.
Einzelpersonen sollten sich eher nicht mit Sachspenden einbringen, das war am Anfang wichtiger. Jetzt ist es gut, dass sie sich engagieren, indem sie Zeit schenken, etwa, indem sie eine Gruppe, zum Beispiel eine Kochgruppe, unterstützen oder einer Person bei Ämtergängen oder bei der Übersetzung von Briefen von Ämtern helfen. Die Briefe sind meistens auf Deutsch. Auch die Übersetzung ins Englische hilft sehr, weil viele Ukrainerinnen und Ukrainer gut Englisch sprechen.
Wer in Stuttgart helfen will, kann sich gerne an uns wenden, und wir vermitteln einen Kontakt. Außerdem kann man sich direkt bei Kirchengemeinden melden. Das gilt natürlich für alle Kirchengemeinden und -bezirke der Landeskirche.