Unsere Gesangbücher sind wahre Schatztruhen voller bewährter Lieder, die Kraft geben, Trost spenden, Zuversicht stiften, Hoffnung machen - und die besten von ihnen sind in Zeiten tiefer Krisen entstanden. Im Folgenden geht Frieder Dehlinger, Pfarrer im landeskirchlichen Amt für Kirchenmusik, anhand vieler Beispiele dem Zusammenhang von Krise und Kirchenlied nach und macht Mut, auch heute Lieder zu suchen, die die Sorgen unserer Zeit ausdrücken.
In der ZEIT vom 24. März 2022 schreibt Bernd Ulrich, Krisen seien nicht mehr die Ausnahme von der Normalität, sie seien die neue Normalität. Artensterben, Klimawandel, Corona, Krieg, Hunger, Massenflucht aus Ost und Süd: die Krisen, schreibt er, seien so eng verzahnt, dass ein Zurück – gar ein rasches - zur gewohnten Stabilität nicht zu erwarten sei. Manche Gegenden und manche sozialen Gruppen würden jetzt schon von den Krisen überrollt. Andere lebten im Gefühl einer wachsenden Beunruhigung oder gar Bedrohung.
Neben dem Krisenmanagement ist das große Thema die Resilienz. Also: wie finde ich, wie finden wir in einer verstörenden Welt zu Klarheit, Vertrauen, Handlungsfähigkeit? Mit dieser Frage blicke ich auf die Lieder unseres Gesangbuchs: Wie wirkt ein Kirchenlied in Krisenzeiten? Welche Lieder stärken Resilienz? Welche Theologie spricht sich in ihnen aus? Eines wird rasch deutlich: „Da wohnt ein Sehnen tief in uns“ – Die wichtigsten, schönsten, tragfähigsten Kirchenlieder, die wir haben, sind in Krisenzeiten entstanden. Sie sind gerade deswegen gut, tragfähig und langlebig, weil sie Krisenerfahrungen verarbeiten – und darum über ihre Entstehungszeit hinaus in Krisen sprechen können.
Nehme ich meine Bibel zur Hand, finde ich gleich am Anfang den großen Satz: Und Gott sah an, alles was er geschaffen hatte, und siehe: Es war sehr gut! (Gen 1). Das ist unser Anfang, und Gott freut sich und feiert einen gesegneten Sabbat. Schlage ich meine Bibel hinten auf in Offenbarung 21 und 22, lese ich entsprechend: Gott wischt die Tränen ab. Er wohnt inmitten seiner Schöpfung. Leid und Geschrei und Schmerz sind vergangen. Alles ist neu, alles ist gut.
Dazwischen – zwischen gutem Anfang und unserem guten Ende - erzählt die Bibel Kapitel um Kapitel von Kriegen und Konflikten, von Abbrüchen und Aufbrüchen, von Nöten und Neuanfängen. Die Bibel ist voller Krisenerfahrungen; diese sind eingebunden in die Geschichte vom guten Anfang und die Geschichte vom guten Ende und Ziel dieser Zeit. Sie sind bezogen auf den vergebenden und liebenden Gott, den Jesus uns nahebringt. Den er in die Mitte unseres Glaubens stellt. Die Bibel offenbart uns einen Gott, mit dem in Krisenzeiten gerechnet werden kann. Der mit unterwegs ist. Der Klagen hört. Und auf Gebete antwortet. Ein Gott der kreativ ist und seine Geschöpfe segnet. Ja, gerade in den Krisen, gerade an unseren Grenzen erfahren wir Gott: im Kreuz, in der Passion.
Ein guter Anfang, ein gutes Ende, Jesus Christus als die Mitte: ein naher, liebender Gott, der Leben in Fülle, Heil und Segen mit sich bringt.
Das ist die biblische Grundlage – die Grundlage unseres Glaubens, unserer Kirche, die Grundlage unserer Lieder.
Kämpferische Lieder als Krisenbewältigung finden wir wieder in der Zeit der Weltkriege, etwa bei Otto Riethmüller aus dem Jahr 1932 (EG 594):
Herr, wir stehen Hand in Hand / die dein Hand und Ruf verband. (…) Welten stehn um dich im Krieg, gib uns Teil an deinem Sieg, Mitten in der Höllen Nacht hast du ihn am Kreuz vollbracht. In die Wirrnis dieser Zeit / fahre Strahl der Ewigkeit. Zeig den Kämpfern Platz und Pfad / und das Ziel der Gottesstadt. (…) Herr wir gehen Hand in Hand, Wandrer nach dem Vaterland. Lass dein Antlitz mit uns gehen, bis wir ganz im Licht stehn.
Riethmüller nimmt die ganze Kampf-, Waffen- und Kriegsmetaphorik seiner Zeit auf. Er war ja Pfarrer in der Jugendarbeit, da ist man schneller dabei, junge Sprache zu sprechen. Wie tröstet Riethmüller in der Krise? Zunächst benennt er die Kraft christlicher Gemeinschaft: Wir – also die junge Gemeinde – wir stehen Hand in Hand - eine interessante Fortschreibung zu Spittas „Ich steh in meines Herren Hand“. Dann hebt er den Blick hinauf zum Kreuz und erinnert an den Sieg Christi über die Höllenmächte. Und zuletzt hebt er den Kopf und blickt auf das Bild der Gottesstadt aus Offenbarung 21: die Stadt, die Gott aus dem Himmel herabkommen lässt. Dort sind die Tränen abgewischt. Eine Stadt voller Licht, in der die Menschen um den Thron Christi in Frieden zusammenleben werden. Also ein Blick über alle Wirrnis dieser Zeit hinaus auf das Gute, das kommen wird. Es wartet ein gutes Ende und Gottes Ziel: eine gute neue Zeit.
In den Liedern von Jochen Klepper finden wir alle Motive, denen wir bei unserem Durchgang durch die Liedgeschichte begegnet sind:
Der du allein der Ewge heißt / und Anfang, Ziel und Mitte weißt im Fluge unserer Zeiten: bleib du uns gnädig zugesandt / und führe uns mit starker Hand, damit wir sicher schreiten.
Der gute Anfang der Schöpfung, von dem wir kommen. Das gute Ende im Reich Gottes, auf das Gott uns hinführt. Unsere Mitte: der gestorbene und auferstandene, im Geist mitten unter uns gegenwärtige Jesus Christ.
Jochen Kleppers Lieder haben erst in der Nachkriegszeit sich in viele Herzen und Seelen gesungen. In den Kriegsjahren selbst waren es vor allem die Lieder aus der Krise der Reformationszeit und die Lieder aus den Nöten des 30-jährigen Krieges, die anschlussfähig waren in Kirchenkampf, Weltkrieg und deutschem Untergang. Diese Lieder haben dann in der Nachkriegszeit das 1954 erschienene EKG geprägt, weil sie mit ihrer Leid-Erfahrung den Menschen in diesen Krisen Worte gaben und Sinnhorizonte aufzeigten.
Schwere Zeiten bringen starke Lieder hervor. Krisenbewährte Lieder, die auch über ihre Zeit hinaustragen und trösten - und manchmal auch zum guten Kampf ermutigen.
Die Krisen der letzten 50 Jahre drehten sich um Rollenbilder und Emanzipation, um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Die Krise der Wiedervereinigung; die Kriege im Nahen Osten, die Bankenkrise, der militante Islamismus. Manche dieser Krisen haben Lieder hervorgebracht, viele davon finden wir im württembergischen Regionalteil:
Die Krisen von heute und morgen werden neue Lieder hervorbringen. Wir werden, wie jede Generation, auch neue Lieder brauchen, Lieder zu den Themen, in den Sprachen und mit den Bildern unserer Zeit. Vielleicht aber ist es möglich, aus unserem Durchgang durch die Geschichte der Krisen und ihrer Kirchenlieder Kriterien abzuleiten, was ein starkes, wirkungsvolles Krisenlied ausmacht:
Kirchenlieder machen stark,
- weil das gesungene Wort stärker wirkt als das gesprochene.
- weil der Heilige Geist sich der Musik bedient, um nachhaltig in Seele und Gemüt zu wirken. Sie machen stark,
- wenn sie den guten Anfang und das gute Ende der Bibel besingen
- wenn sie an überwundene Krisen erinnern, an die Krisenerfahrungen im Psalter, von Mose, Jeremia, Maria und in der (Kirchen-) Geschichte, und allem voran an Leben und Lehre, Passion und Auferweckung Jesu. Sie machen stark,
- indem sie uns in unseren inneren, unzerstörbaren Seelenraum führen.
- indem sie uns beten lehren, und wir uns ihre Worte zum Beten ausleihen können. Sie machen stark,
- wenn das gemeinsame Singen vielfältige Verbundenheit schafft.
Vielleicht sind das gute Kriterien, wenn wir jetzt für die Gottesdienste Lieder suchen, die Resilienz fördern. Natürlich hat die Sprache Luthers oder Heermanns Abstand zu unserer heutigen Sprache. Doch ihre Bilder sind verständlich und ihre Verse haben auch durch ihre Krisenbewährung verlässliches Gewicht. Zu singen an sich schon stärkt Resilienz. Bringen wir, wo wir in unseren Gemeinden die Möglichkeit haben, Menschen zum Singen und Beten zusammen. Wählen wir mit Sorgfalt gute, starke Lieder aus: Gebetslieder, biblische Lieder, krisenbewährte Lieder, Lieder, die die Not beim Namen nennen, Vertrauenslieder, Lieder, die unsre Seelen und unserer Gemeinschaft stärken. Starke Lieder. Stärkende Lieder
Frieder Dehlinger (zuerst erschienen in der Zeitschrift Arbeit & Besinnung 09/2022)
Bildquelle:
Demonstration in Berlin, Leonhard Lenz, Eigenes Werk, CC0 1.0 via Wikimedia Commons