17.08.2022

„Wir brauchen sowohl traditionelle als auch neue Lieder"

Professor Jens Wollenschläger zur Polarität von „Klassik versus Pop“ in der Kirche

Effekthascherei in der Kirchenmusik lehnt Jens Wollenschläger, Professor und Prorektor an der Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen, ab. Gut ankommen dürfe die Musik aber, sagt er. Im Interview spricht er über die Debatte um Popmusik in der Kirche, über die Zukunft der Kirchenmusik, und erklärt, warum er die Orgel so sehr schätzt.

Professor Jens Wollenschläger ist Erster Organist an der Tübinger Stiftskirche St. Georg und Prorektor der Hochschule für Kirchenmusik Tübingen.

Herr Professor Wollenschläger, Kirche verändert sich – wie sieht aus Ihrer Sicht die Zukunft der Kirchenmusik aus?

Jens Wollenschläger: Kirche und ihre Musik müssen sich ständig erneuern: „Ecclesia semper reformanda“ ist so etwas wie der rote Faden reformatorischer Kirchen. Faktoren werden dabei nicht nur die musikalische Stilistik sein, sondern auch die Frage, ob man die Menschen eher in ihrem Alltag abholt oder ob man den Alltag bewusst aus dem Gottesdienst verbannt. Beides hat aus meiner Sicht seine Berechtigung. Kirchenmusiker müssen ein Gespür dafür haben, was liturgisch angemessen ist. Die Musik darf keiner reinen Effekthascherei dienen. Aber: Es ist nicht verboten, dass Kirchenmusik gut ankommt. Entscheidend sind die Vielfalt und die Qualität, in Text und Musik.

In diesem Zusammenhang taucht oft die Frage auf, ob Kinder und Jugendliche im Gottesdienst mehr Popmusik brauchen. Meine Meinung dazu: Junge Menschen wollen ernstgenommen werden, einen Gottesdienst authentisch erleben. Wer sich ihnen anbiedert, wird schnell entlarvt. Viele junge Menschen hören sowohl populäre als auch klassische Musik; so habe ich es in meiner Jugend selbst auch gehalten. Es liegt auch in der Verantwortung der Gesellschaft, den Jugendlichen nichts vorzuenthalten. Jungen Menschen die klassische Musik vorzuenthalten, wäre, als brächte man ihnen in der Mathematik nur die Grundrechenarten bei und entließe sie dann in den Berufsalltag. Die Bildungspolitik hat hier leider vieles versäumt.

Welche Bedeutung hat in diesem Kontext der Gemeindegesang?

Wollenschläger: Der Gesang der Gemeinde ist seit der Reformation sehr wichtig; bis dahin durfte nur der Klerus singen. Ihn einzuführen, war ein genialer Schachzug der Reformatoren, vor allem von Luther und Calvin, die der Gemeinde durch Psalm- und Katechismuslieder die biblischen Texte und Schriften der Reformation nahebrachten. So konnten sie auch die analphabetischen Teile der Bevölkerung für die Lehre der Kirche gewinnen. Auch heute spielt der Gemeindegesang aus den genannten Gründen noch eine tragende Rolle; er ist darüber hinaus ein wichtiges, schützenswertes Kulturgut.

Wir brauchen sowohl traditionelle als auch neue Lieder. Und man darf nicht vergessen, dass der Gottesdienst in Bezug auf die Liturgie von der Tradition getragen wird. Eine Messe beispielsweise kann nur dann überzeugend funktionieren, wenn die Anwesenden mit dem Ablauf vertraut sind. Vertrautheit schafft Heimat und damit Verbundenheit.

Traditionelle Lieder werden von vielen Gläubigen sehr geschätzt, andere wünschen sich neue Formen – wie kann man diesen Spagat meistern?

Wollenschläger: Vielfalt ist ebenso wichtig wie die Offenheit, andere Lieder zulassen – in beide Richtungen. Oft wird der traditionellen Musik vorgeworfen, ihre Texte seien zu schwülstig und heute niemandem mehr zuzumuten. Ich bin dann oft überrascht, dass ich moderne Liedtexte teils noch haarsträubender finde – so weit voneinander entfernt sind sie in diesem Punkt also oft gar nicht.

Das Thema „Klassische Musik versus Popularmusik“ ist schon einige Jahrzehnte alt, aber immer gilt: Musik stiftet – wie auch Sprache – Sinn und Identität. Was von der persönlichen Ausrichtung abweicht, lehnen viele Menschen ab. Die Polarität wird man aus meiner Sicht nie ganz auflösen können, weil die Menschen verschieden sind. Zum Thema „Musikalische Vielfalt“ gibt es das Modell, alles entweder in einem Gottesdienst unterzubringen oder alternativ musikalische „Spartengottesdienste“ anzubieten, die versuchen, den jeweiligen Hörgewohnheiten gerecht zu werden. Das wird ein dauerhaftes Experimentierfeld – auch mit Reibungsflächen – bleiben.

Was schätzen Sie persönlich an traditionellen Liedern, die manchmal auch eine Sprache sprechen, die heute schon wegen der Begrifflichkeiten nur noch schwer verstanden wird oder auch missverstanden werden kann?

Wollenschläger: Oft haben traditionelle Lieder eine sehr hohe Qualität in Text und Musik. Nicht umsonst haben sie so viele Jahrhunderte überdauert. Martin Luther etwa war sowohl ein hervorragender Komponist als auch ein begnadeter Lieddichter, was zu einer teils beeindruckenden Einheit von Text und Musik führte. Mich hat schon als Kind die alte Sprache fasziniert; ich fand das nie befremdlich, sondern eher faszinierend, wie man sich in früheren Zeiten ausdrückte. Dazu kommt bei den traditionellen Liedern der volksmissionarische Hintergrund mit seiner hohen Bedeutung in der reformatorischen Kirche. Er führte praktisch zur Emanzipation der Gemeinde.

Oft findet man in Liedtexten auch biographische Elemente, wie z.B. bei Paul Gerhardt. Ich kann nachvollziehen, dass diese Texte manchen Menschen Probleme bereiten. Aber: In unserer Zeit werden Texte und andere kulturelle Elemente häufig etwas zu schnell verbannt. Man muss sie im damaligen geschichtlichen Kontext betrachten. Hier wünsche ich mir mehr Offenheit anstelle einer „Cancel Culture“, die mich eher an die Bilderstürmer erinnert, die wahrlich kein Ruhmesblatt für die Reformation waren.

Wie sieht Ihr Blick auf modernes Liedgut aus, das sich an zeitgenössische Stilformen aus Pop, Rock, Rap oder ähnlichem anlehnt? Was schätzen Sie daran, was finden Sie problematisch?

Wollenschläger: Ich selbst bin klassisch sozialisiert, weshalb ich mit klassischer Kirchenmusik naturgemäß mehr anfangen kann. Aber ich weiß auch, dass viele Menschen sich mit christlicher Popmusik identifizieren und sich dort auch religiös zuhause fühlen. Neben der notwendig zu führenden Qualitätsdiskussion (ich wundere mich gelegentlich, was manche Komponisten sich trauen, auf den Markt zu werfen) wird auch der persönliche Geschmack und die eigene Prägung nie ausgeklammert werden können.

Es ist für mich auch eine Frage des Respekts, meine eigenen musikalischen Ansichten nicht anderen Menschen überzustülpen. Die textliche Komponente muss Qualität haben und theologisch tragbar sein. Es braucht liturgisches Gespür. Wenn ich höre, dass ein Organist den – aus meiner Sicht zu Recht auf dem „Index“ stehenden – „Layla“-Hit im Gottesdienst spielt, frage ich mich, ob nicht mal dringend ein Gespräch zwischen Organist und Pfarrer vonnöten wäre.

Welche Rolle spielt die Orgel für Sie in der Kirchenmusik?

Wollenschläger: Die Orgel ist mit ihren 2500 Jahren eines der ältesten Musikinstrumente überhaupt; sie kam aus Ägypten über Byzanz nach Europa und steht seit über 1000 Jahren in unseren Kirchen. Eine Orgel ist aus meiner Sicht das ideale Instrument für den großen Kirchenraum, um quasi als Ein-Mann-Orchester Musik zu produzieren – für solistische Musik, Prozessionsmusik, beim Abendmahl wie für die Gemeindebegleitung. Für ein ähnliches Ergebnis würde man ohne Orgel 80 bis 100 Musiker benötigen. Andere Instrumente schließe ich aber nicht aus, z.B. setze ich mich gerne auch mal an den Flügel oder leite einen Kantatengottesdienst mit Orchester.

Für Jens Wollenschläger ist die Orgel das ideale Instrument für den Kirchenraum.

Ohne Orgel geht es also nicht?

Wollenschläger: Für mich ist das nicht vorstellbar. Kein Instrument reicht von seiner Vielfalt her an die Vielfalt der Orgel heran. Der häufig zu vernehmende Vorwurf, man könne mit ihr keine modernen Lieder begleiten, trifft in keinster Weise zu. Oft wird ihr vorgeworfen, sie sei altbacken. Außerhalb der Kirche, z.B. in Konzerten, kämpft sie immer noch um Popularität, da sie immer mit Kirche in Verbindung gebracht wird und Kirche gerade eher einen schlechten Ruf hat – da wird zwischen den Konfessionen auch nicht differenziert. Aber die reale Wahrnehmung und die Vorstellung von der Orgel gehen auseinander: Schulklassen, denen ich das Instrument zeige, sind immer begeistert und wollen häufig sogar selbst darauf spielen. Das schlechte Image der Orgel entsteht meist aus Unkenntnis.

Kann Kirchenmusik Menschen „in die Kirche bringen“ oder sie „dort halten“?

Wollenschläger: Sicher, das kann sie, wobei man „halten“ noch definieren müsste. Manchen Christen wirft man vor, sie seien „Kulturchristen“, gingen nur wegen der Musik, der Kultur, in die Kirche. Ich kann das nicht als Makel betrachten. Die Musik ist ein großer Schatz, der Menschen an die Kirche binden kann. Neben dem Verkündigungsauftrag hat die Kirchenmusik, wie schon erwähnt, einen volksmissionarischen Charakter, bis in die Chöre hinein. Hier singen sogar Menschen mit, die mit Kirche ansonsten nichts zu tun haben wollen. Die Einheit von Text und Musik, das Memorieren von Texten, die durch die Musik besser im Gedächtnis bleiben, und vor allem die Liebe zur Kirchenmusik sind ein hohes und schützenswertes Gut. Also: Bindung schaffen: ja. Konvertieren: eher nein. Aber: Dabeisein, Mitsingen und Mithören haben einen hohen Stellenwert.

Wie muss Musik in der Kirche „gemacht“ sein, damit sie Menschen im besten Sinne begeistert und die Glaubensbotschaft vermittelt?

Wollenschläger: Geschmack und Expertise fallen hier oft auseinander! Kirchenmusik wirkt unterschiedlich: Manche Menschen sind mit einfacherer Musik zu begeistern, andere langweilt diese. Manche Musik, wie die so manchen großen Musicals, ist sehr kommerziell und einfach strukturiert, um viele Menschen anzuziehen. Diese „Niederschwelligkeit“ begrüßen manche, andere sehen in ihr das größte Übel. Popmusik ist häufig auf kommerziellen Erfolg und auf Selbstdarstellung ausgerichtet: Das ist für mich manchmal ein Widerspruch zu kirchlichen Inhalten. Musik braucht grundsätzlich eine musikalische wie textliche Qualität und ihre Schöpfer ein liturgisch-kirchenmusikalisches Gespür, wenn man von „Kirchenmusik“ sprechen möchte. Das grundsätzliche Dilemma besteht aber auch darin, dass der Anspruch an Qualität nicht von jedem geteilt wird. Schon deshalb wird diese Frage jeder unterschiedlich beantworten.

Wie kann man Interessierten den Zugang zur Kirchenmusik – aktiv oder passiv – erleichtern?

Wollenschläger: Entscheidend ist, dass Kirche unter den Menschen ist. Kirchenmusik in Konzerten wird meistens gut in der Presse beworben; die Hemmschwelle, aktiv teilzunehmen, ist viel höher. Andererseits muss man an die heilvolle Funktion des Chorsingens denken; das Singen in der Gemeinschaft tut gut. Man muss zu den Leuten gehen und schon Kindern vermitteln, welche Angebote es gibt. Gerade Kindern aus sogenannten bildungsfernen Haushalten muss man solche Möglichkeiten aufzeigen, die sie sonst nie kennenlernen würden. Auch hier kritisiere ich die Bildungspolitik. Es hängt heute zu sehr von einzelnen Lehrkräften ab, ob z.B. eine Orgelführung für Kinder stattfindet oder nicht. Manche Schulen stehen allem Kirchlichen grundsätzlich kritisch gegenüber – als gäbe es die „ideologiefreie Schule“. Aus meiner Sicht eine Illusion. Ich plädiere für Offenheit und Gelassenheit, das tut allen gut.

Ebenso Singprojekte:  Es gibt immer weniger Schulchöre; doch in Zusammenarbeit zwischen kirchlichen und weltlichen Chören können wertvolle Singprojekte entstehen. Gerade innerhalb Württembergs gibt es zahlreiche erfreuliche Beispiele, bei denen beispielsweise eine Kantorin mit einer Schulklasse regelmäßig singt und die Schulklasse hin und wieder mit dem örtlichen Kinderchor der Kirchengemeinde auftritt.

Zum Schluss interessiert uns: Welches sind Ihre persönlichen Lieblingskirchenlieder?

Wollenschläger:

  • Nun komm, der Heiden Heiland (EG 4)
  • Es ist ein Ros entsprungen (EG 30)
  • Von guten Mächten (EG 65)
  • Wie schön leuchtet der Morgenstern (EG 70)
  • Wachet auf, ruft uns die Stimme (EG 147)
  • Mach's mit mir, Gott, nach deiner Güt (EG 525)

Judith Hammer

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