Von Frank Zeithammer
Seit fast 120 Jahren gibt es das Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg. Es ist noch immer die größte regionale Kirchenzeitung in Deutschland, mit einer hochverbundenen, treuen und kritischen Leserschaft. Auch im digitalen Zeitalter behält es seine wichtige Aufgabe, als eigenständiger Teil eines multimedialen Konzeptes, in dem Print mehr ist als nur eine Übergangslösung.
Den Leuten platzt mal wieder der Kragen. „So kann man das nicht stehen lassen“! Die Zuschriften haben es in sich, mit der nachdrücklichen Bitte um Veröffentlichung natürlich. Woche für Woche erreicht die Redaktion des Evangelischen Gemeindeblatts Post der Leserinnen und Leser, teilweise noch auf Papier, immer öfter aber auch per E-Mail.
Was in ihrem Gemeindeblatt steht, lässt sie nicht kalt. Wenn sie damit nicht einverstanden sind, teilen sie das mit. Wenn ihnen etwas gut gefällt, ganz genauso. Ein intensiver Austausch mit Menschen, die der Kirche, dem Glauben und der Zeitung, die sie oft schon seit Generationen abonniert haben, eng verbunden sind.
Mit etwa 35.000 Abonnentinnen und Abonnenten ist das Evangelische Gemeindeblatt die größte regionale Kirchenzeitung in Deutschland. Die Reichweite ist noch immer enorm: Von Weikersheim im Taubertal bis Friedrichshafen am Bodensee geht das Verbreitungsgebiet, von Freudenstadt im Schwarzwald bis Heidenheim auf der Ostalb.
Wenn etwas im Gemeindeblatt steht, macht es in kirchlichen Kreisen schnell die Runde. Die Zahl der Hände, durch die jede Ausgabe geht, ist auch deshalb so groß, weil das Heft in vielen Krankenhäusern, Altenheimen und sozialen Einrichtungen ausliegt. „Hasch des g‘lese, neulich im Blättle?“, heißt es immer wieder, wenn man mit den Menschen in den Gemeinden spricht.
Seit 1905 gibt es das Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg. Es entstammt der Schriftenmission der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart. Erbauliche Beiträge für die Protestanten im Lande, lose Blätter, die irgendwann gebunden erschienen. Am Anfang hatte das Heft vier Seiten und kostete eine Mark im Abonnement.
Nach und nach wurde daraus eine richtige Zeitung. Mit ersten Zeichnungen und Bildern und bald auch mit Werbeanzeigen für den Alltag: Haushaltshilfe gesucht, Wohnung zu vermieten, die neuesten Bibeln aus der Buchhandlung. Die Zahl der Besteller wuchs beständig, als 1972 auch noch das Evangelische Sonntagsblatt für Stuttgart dazu kam, war man bei weit über 100.000 Exemplaren.
Das Gemeindeblatt wurde zu einem Stück Identität für die Leserinnen und Leser. Und zu einem wichtigen Forum für Veröffentlichungen von Tragweite: So schrieb Pfarrer Julius von Jan, der sich 1938 mutig gegen die Nazis und ihren Judenhass gestellt hatte, seine Erinnerungen an diese Zeit 1957 erstmals für das Evangelische Gemeindeblatt auf.
Viele wichtige Diskussionen spiegeln sich auch heute noch auf den Seiten des Gemeindeblatts wider: Wie stellt sich die Landeskirche zur Homosexuellen-Segnung, was läuft in der Ökumene schief, wo sind die Brennpunkthemen im Bereich der Diakonie und wie ist es mit Putin und den Orthodoxen? Hintergründe werden geliefert, Stimmen aus dem Lande gesammelt, Strömungen aus den evangelischen Gemeinden im Lande, die alle ihre ganz eigene Prägung haben.
Das Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg ist noch immer das einzige unabhängige Presseorgan, das die Gesamtheit der Württembergischen Landeskirche abdeckt. Wer wissen will, was in den Regionen los ist: Hier erfährt man es, Woche für Woche auf mittlerweile 40 beziehungsweise 48 Seiten.
Eine achtköpfige Redaktion bestückt das Blatt mit einer Vielfalt von Inhalten, unterstützt von freien Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Land, die nah dran an den Gemeinden sind. Bis heute steht die biblische Verkündigung im Zentrum des Blattes und das darf man ganz wörtlich nehmen: Die Heftmitte gehört der Sonntagspredigt, ihrer Auslegung durch die Pfarrerinnen und Pfarrer sowie dem Wort für den jeweiligen Wochentag. „Erleben, woran wir glauben“: Der Untertitel kommt nicht von ungefähr, sondern ist Ausdruck eines Selbstverständnisses, das auf den christlichen Grundwerten und einem publizistischen Auftrag beruht. Der Glaube als lebendiger Lesestoff, als etwas, das beleuchtet, gewürdigt und kritisch begleitet werden will.
Wie alle Presseerzeugnisse hat auch das Evangelische Gemeindeblatt mit Auflagenrückgängen zu kämpfen. Das Internet hat die Zeitungswelt verändert, hinzu kommt eine sinkende Zahl eng kirchlich verbundener Menschen. Umso bedeutender sind die Weichenstellungen für die Zukunft.
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung erfolgte am 1. Januar 2019: Nach über 100 Jahren unter dem Dach der Evangelischen Gesellschaft wurde das Gemeindeblatt auf meine verlegerische Initiative Teil des Evangelischen Medienhauses der Landeskirche. Eine Grundvoraussetzung dafür, dass der Wandel in eine digitale und multimediale Zukunft auch gelingen kann.
Das mag für den einen oder anderen etwas hochgestochen klingen und nach einem Ende der gedruckten Zeitung, doch das Gegenteil ist der Fall: Nur im Verbund mit anderen publizistischen Ansätzen kann ein Printprodukt heute überleben. Die gedruckte Zeitung als fester Baustein eines Medienkonzepts, in dem Print eben kein Auslaufmodell ist – darum geht es.
Zur Neuausrichtung gehört auch eine Chefredaktion, die nicht mehr nur für das Gemeindeblatt zuständig ist. Tobias Glawion, der im Januar 2019 das Amt von Petra Ziegler übernommen hat, steht sämtlichen Redaktionen des Evangelischen Medienhauses vor: Hörfunk, Fernsehen, Multimedia und Evangelisches Gemeindeblatt.
Der 53-jährige Kirchenjournalist hat einen breiten Erfahrungshintergrund im Bereich neuer Medienkonzepte. Von Anfang an ließ er keinen Zweifel daran, dass er die publizistische Eigenständigkeit des Gemeindeblatts bewahren will: Auch unter dem Dach der Landeskirche bleibt sie ein unabhängiges Medium, das wohlwollend und kritisch zugleich das Glaubensleben abbildet. Verlautbarungsjournalismus wird es nicht geben, kein Vertreter des Oberkirchenrats wird jemals Beiträge vor deren Veröffentlichung lesen. Für das Gemeindeblatt gelten die Grundsätze der Pressefreiheit wie für jedes andere unabhängige Medium in Deutschland.
Tobias Glawion hat großen Respekt vor der langen Tradition des Gemeindeblatts, das er in seiner Printausgabe stark halten will. So gab es jüngst eine Layout-Reform, mit der auch eine inhaltliche Profilschärfung einherging: So wird in der Rubrik „Gesellschaft & Zeitgeschehen“ aktuellen Trends und Entwicklungen noch mehr Raum gegeben und unter der Überschrift „Aus der Kirche“ ein Blick auf andere Landeskirchen und die EKD geworfen.
Zugleich wurden die Regionalteile den Prälaturen angepasst, was die Zuordnung der Beiträge im kirchlichen Umfeld erleichtert. Mit der inhaltlichen und graphischen Reform ging auch ein Wechsel der Druckerei einher: Künftig wird auf Papier mit einem höherem Altpapieranteil gedruckt, eine sowohl kostengünstigere als auch umweltfreundlichere Lösung.
Längst haben auch die Redaktionen des Evangelischen Medienhauses begonnen, in vielen Bereichen zusammenzuarbeiten. Regelmäßig gibt es gemeinsame Konferenzen. Erste Vorhaben einer multimedialen Zusammenarbeit konnten bereits umgesetzt werden. Dazu gehören die Internetseiten, auf denen die Leseraktion „Glaubensweg“ vorgestellt wird, mit Beiträgen, die sowohl online als auch im gedruckten Blatt ihren journalistischen Niederschlag finden. (www.glaubensweg.evangelisches-gemeindeblatt.de)
Das aufwändigste und erfolgreichste Stück dieser zeitgemäßen Kooperation war jüngst das Projekt „Körperspende – der vorletzte Weg“. Die multimediale Präsentation der Frage, warum und wie Menschen sich entscheiden, ihren Körper nach dem Tod der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, wurde mit dem renommierten Medienpreis der Landesanstalt für Kommunikation ausgezeichnet. Auch hier war das Gemeindeblatt wieder ein wichtiger Partner im Zusammenspiel neuer und klassischer Medien.
Für Kirchengemeinden ist das Evangelische Gemeindeblatt bis heute eine wichtige Quelle der Information und Inspiration. Hier bekommt man nicht nur mit, was sich im Lande tut, sondern stets auch Impulse für eigene Aktionen: Was am Bodensee funktioniert hat, könnte vielleicht auch etwas für Hohenloher sein, was die Schwarzwälder so umsetzen, funktioniert unter anderen Vorzeichen vielleicht auch für die Evangelischen auf der Alb.
Die Intensität, mit der die Abonnentinnen und Abonnenten ihr Gemeindeblatt lesen, ist immer wieder ganz erstaunlich. Die Kirchenzeitung als Plattform für Inhalte, die man vielfältig nutzen kann. In diese Richtung geht auch ein Konzept, das unter dem Titel „Agora 2030“ zu einem Angebot für die Gemeinden werden soll.
„Agora“ ist ein altes Wort für Marktplatz. Und als ein solcher versteht sich das Gemeindeblatt auch rein inhaltlich wie verlegerisch: Langfristig werden hier Content-Strategien entwickelt, die es Gemeinden erlauben, die für sie relevanten Text- und Bildbausteine zu erwerben.
Das ist echte Zukunftsmusik, basiert es doch auf einer umfassenden Analyse 2021 auf Gemeinde- und Dekanatsebene – von Bedarf und Angebot. In absehbarer Zeit soll es zu einem Austausch zwischen Gemeindeblatt und Gemeinden auf dieser neuen Ebene kommen. Eine Ebene, die das Bisherige nicht ersetzt, sondern ergänzt, die den Nutzwert eines publizistischen Angebots erhöht, das in vielen Bereichen auch für die Kommunikationsarbeit der Kirchengemeinden interessant und hilfreich sein wird.
Basis von alledem bleibt freilich die gedruckte Zeitung, die wöchentlich 35.000 Abonnentinnen und Abonnenten und über 100.000 Leserinnen und Leser erreicht. Wie wichtig dieses mediale Angebot ist und bleibt, war einmal mehr in der Corona-Krise spürbar: Für viele Menschen waren Fernsehen, Hörfunk und Kirchenzeitung ein Ersatz für den fehlenden Gottesdienstbesuch und das kaum noch stattfindende Gemeindeleben.
Eine besondere Herausforderung bleibt für den Verlag des Evangelischen Gemeindeblatts dabei freilich die Abonnenten-Werbung, ohne die eine Zukunft der Zeitung nicht denkbar ist. Viele treue Leserinnen und Leser sterben, andere bestellen ab oder wechseln den Wohnort.
Bei der Werbung ist der Verlag ganz besonders auf das Wohlwollen der Pfarrerinnen und Pfarrer in den Gemeinden angewiesen. Sie entscheiden mit ihrem Kirchengemeinderat darüber, ob eine Haustürwerbung stattfinden darf oder nicht. Für viele hat der Begriff Haustürwerbung einen negativen Beigeschmack: Er klingt nach Überrumpelung, Drückerkolonnen und unseriösen Geschäftspraktiken.
Davon distanziert sich der Verlag des Gemeindeblatts jedoch ausdrücklich. Die Praxis sieht seit über einer Dekade anders aus: Die Werberinnen und Werber des Gemeindeblatts, die an die Haustür kommen, sind geschult und so ausgewählt, dass sie mit Respekt den Menschen dort begegnen. Das persönliche Gespräch ist nämlich durch nichts zu ersetzen und das Produkt, das dahintersteht, etwas, für das man sich ja nun wirklich nicht schämen muss.
Im Gegenteil: Die Stärkung und Erhaltung unabhängiger Medien ist wichtiger denn je. Der Niedergang vieler klassischer Printprodukte, die zunehmende Konzentration auf dem Markt der Zeitungen: All das gefährdet auch die Demokratie. Wer nur noch im Internet unterwegs ist, verlässt kaum noch seine Blase und wird sich immer seltener mit anderen Meinungen konfrontieren.
Die Vielfalt der Strömungen, Positionen und regionalen Besonderheiten, die das Gemeindeblatt widerspiegelt, steht dazu in einem wichtigen Gegensatz. Redaktion und Verlag fühlen sich allen Menschen in den Gemeinden verpflichtet, egal welcher Glaubensprägung und Herkunft sie sind.
Die Existenz einer Kirchenzeitung unterstreicht die Bedeutung von Kirche in der Gesellschaft. Gibt man solche publizistischen Möglichkeiten einfach Preis, wie das vor Jahren etwa im Bereich der Badischen Landeskirche der Fall war, ist das letztlich zum Nachteil aller und unwiederbringlich.
Je seltener gute Printprodukte werden, desto größer ist ihre Bedeutung. Das klingt paradox angesichts des aktuellen Auflagenverlustes fast aller Abonnementzeitungen. Langfristig jedoch kommt den gedruckten Zeitungen, die am Markt bleiben, eine besondere Beachtung zu: In der unübersichtlichen Vielfalt des Internets und der Digital-Angebote, sind sie ein Fels in der Brandung. An dem man sich reiben – und festhalten kann. Ein greifbares Stück Papier mit einem klar umrissenen Anfang und Ende. Ein solides Druckwerk, das man jemand in die Hand drücken kann und mit dem man sich gerne aufs Sofa setzt. Lesegenuss ganz einfach, weil es zwischendurch ganz guttut, in keinen Bildschirm blicken zu müssen.