| Gesellschaft

Zur warmen Jacke gibt es warme Worte

Hilde Beck (80) leitet seit 30 Jahren eine Kleiderkammer für Menschen in Not

Seit drei Jahrzehnten engagiert sich die frühere Kirchengemeinderätin, Chorleiterin und Organistin Hilde Beck für Geflüchtete. In der Asylbewerberunterkunft in der Esslinger Rennstraße organisiert sie die Kleiderkammer - unermüdlich, freundlich, aber auch resolut, wenn es sein muss.

Hilde Beck in der Kleiderkammer in der Esslinger Rennstraße. Damit es gerecht zugeht, wird über die Ausgabe der Waren genau Buch geführt.Bild: Rapp-Hirrlinger

An der Wand in der Kleiderkammer hängt ein schwarzes T-Shirt. Aufgedruckt ist Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dass dies immer so ist, daran hat Hilde Beck erhebliche Zweifel. Doch für die 80-Jährige ist es die Leitlinie ihrer ehrenamtlichen Arbeit für Geflüchtete.

Respekt und Wertschätzung

Was Kleiderspenden mit Würde zu tun haben, offenbart sich, wenn Hilde Beck Fotos von Spenden zeigt, die ihr für Geflüchtete angeboten wurden: Zerrissene, schmutzige Hosen, löchrige Schuhe, an denen noch verkrusteter Dreck klebt, oder gar solche ohne Sohlen, Geschirr mit eingetrockneten Essensresten oder Kriegsspielzeug für traumatisierte Kinder. „Das tut es doch noch für die Flüchtlinge“, ist ein Satz, den sie nicht akzeptiert. Was in der Kleiderkammer der Rennstraße kostenlos verteilt wird, soll von guter Qualität, intakt und sauber sein. „Wer sein Selbstwertgefühl total verloren hat, sollte nicht in altem Zeug rumlaufen müssen“, sagt sie. Das ist für Hilde Beck auch eine Frage von Respekt und Wertschätzung.

Engagement seit Jahrzehnten

Angefangen hat ihr Engagement für Geflüchtete vor drei Jahrzehnten, als in der ehemaligen Funkerkaserne in der Esslinger Flandernstraße mehr als 600 Kriegsflüchtlinge aus dem damaligen Jugoslawien einquartiert wurden. Damals war Hilde Beck Kirchengemeinderätin der evangelischen Kirchengemeinde im Esslinger Norden. Im Dachgeschoss des Kasernengebäudes baute die gelernte Schneiderin eine Kleiderkammer auf, änderte und flickte anfangs mit Müttern gespendete Kleidung. Rasch fanden sich in Irene Thur und Elisabeth Gschwendtner Mitstreiterinnen. Die drei sind bis heute der harte Kern im siebenköpfigen Team. Dazu gehören seit vielen Jahren auch Christl Veser, Gisela Scholl-Ziegler, Doris Nausner und Annette Hoyer. Inzwischen sind alle im fortgeschrittenen Alter.

Als die Unterkunft in der Flandernstraße geschlossen wurde, zog die Kleiderkammer in die Rennstraße. Einige Jahre gab es in der Zeppelinstraße eine Abteilung für Männerkleidung, die 2007 jedoch abbrannte. Inzwischen ist alles in zwei kleinen Räumen im Untergeschoß der Rennstraße 8 konzentriert. Jeder Winkel ist ausgenutzt, die Regale, Kisten und Körbe penibel nach Inhalt geordnet und beschriftet. In einem Raum findet Männerkleidung Platz, im anderen können sich Frauen und Kinder bedienen. Neben Kleidung und Schuhen gibt es Bettzeug, Bettwäsche und andere Heimtextilien. Außerdem einen Grundbedarf an Hausrat wie Geschirr, Besteck, Töpfe oder kleine Elektrogeräte wie Wasserkocher.

Wer in einer Gemeinschaftsunterkunft in Esslingen lebt, darf sich kostenlos ausstaffieren, Männer sowie Frauen und Kinder an verschiedenen Tagen.

Keine Tricksereien

Damit es fair zugeht und jeder zu seinem Recht kommt, haben die Organisatorinnen ein ausgeklügeltes System entworfen, das immer wieder verbessert wurde. Alle müssen sich ausweisen. Vor der Ausgabe der Waren zieht jeder Wartende eine Nummer, damit es kein Vordrängeln gibt. Dann sind 20 Minuten Zeit, sich das Benötigte auszusuchen. Das Team achtet darauf, dass nur Passendes mitgenommen wird. Deshalb müssen etwa Schuhe anprobiert werden. In dicken Ordnern ist für jede Familie ein Blatt angelegt. Darauf wird verzeichnet, wer wann was mitgenommen hat. Wer beim letzten Mal zwei Hosen bekommen hat, darf beim nächsten Besuch keine weitere einpacken. „So verhindern wir Tricksereien“, sagt Hilde Beck. Übergroße Mengen unterbindet das Team, denn sie wissen um die vielen anderen Bedürftigen. Dafür würden sie schon mal als „Rassisten“ beschimpft, erzählt Beck von einer Frau, die statt fünf nur zwei Pullis mitnehmen durfte.

Hilde Becks Rezept: mit Bestimmtheit die Einhaltung der Regeln verlangen und zugleich immer freundlich bleiben. Nur ganz selten musste deshalb bisher Hilfe von außen geholt werden. So etwa als eine Gruppe junger Männer aus Gambia meinte, sich nicht an die Regeln halten zu müssen und einige von ihnen auch übergriffig wurden. „Andere Flüchtlinge hatten zum Teil Angst vor ihnen“, erzählt Beck. Deshalb habe man die Polizei alarmiert. Doch die allermeisten, die in die Kleiderkammer kommen, sind froh um das kostenlose Angebot.

Warme Worte für die Seele

Überhaupt geht es in der Kleiderkammer um viel mehr als um warme Jacken. Für viele sind die Frauen auch Kummerkasten, sie hören zu, wenn die geflüchteten Menschen von ihren Nöten erzählen. Dann helfen warme Worte für die Seele manchmal viel mehr als materielle Güter. Zuweilen entstehen auch persönliche Beziehungen. So wie die zu dem 28-jährigen Moustafa aus Syrien, der seit Jahren in der Kleiderkammer ehrenamtlich mit anpackt, schwere Kisten schleppt und auch als Übersetzer aus dem Arabischen hilft.

„Man darf wissen, warum ich mich einsetze“

Hilde Beck ist eine Frau, die sich schon immer engagiert: Für ihren vielfältigen ehrenamtlichen Einsatz in der Evangelischen Kirchengemeinde in Esslingen-St. Bernhardt (heute St. Bernhardt zum Hohenkreuz)  wurde sie Anfang des Jahres mit dem Kronenkreuz der Diakonie in Gold ausgezeichnet. Und auch in der Flüchtlingsarbeit ist es ihr christlicher Glaube, der sie antreibt, sich für „Fremdlinge“ stark zu machen. Um den Hals trägt sie ein kleines goldenes Kreuz: „Ich will nicht missionieren, aber man darf wissen, warum ich mich einsetze.“ Ihr Engagement ist von einem tiefen Gefühl für Gerechtigkeit getragen. Deshalb leidet sie an der Ungleichbehandlung, die sie derzeit zwischen Flüchtlingen aus der Ukraine und aus anderen Ländern feststellt. „Wir werden oft darauf angesprochen“, erzählt sie. „Ich habe mit dieser Politik meine Probleme, weil sie höchst ungerecht ist.“

Ulrike Rapp-Hirrlinger


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