Der Reformationstag am 31. Oktober erinnert uns jedes Jahr an den Reformprozess, aus dem die evangelischen Kirchen hervorgegangen sind. Auch heute steckt die Kirche wieder in einem wichtigen Veränderungsprozess. Sechs Menschen aus der Landeskirche erzählen, was der Reformationstag für sie bedeutet – und teilen ihre ganz persönlichen Reformations-Thesen im Blick auf Kirche heute und morgen.
Die größte Errungenschaft der Reformation liegt für mich in Luthers Entdeckung eines neuen Gottesbildes: Gott begegnet mir mit offenen Armen, bedingungslose Gnade und Liebe stehen über meinem Leben.
Darin liegt die frohe Botschaft des Evangeliums, die von uns ausstrahlen darf – auf allen Kanälen!
Wenn ich an den Reformationstag denke, dann fällt mir das Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ von Martin Luther ein. Bei Besuchen in Minderheitskirchen weltweit, vor allem in Osteuropa, wird dieses Lied gern gesungen und gehört zur sonntäglichen Liturgie. Und wenn die Verse dann aus vollem Herzen gesungen werden, dann wird verständlich, wie wichtig dieses Lied für evangelische Christen ist, die in einem Umfeld leben, wo die evangelische Kirche oft nicht wertgeschätzt, manchmal sogar bedrängt und vielerorts überhaupt nicht wahrgenommen wird. Reformationstag bedeutet für mich persönlich aber auch, an die Freiheit eines Christenmenschen erinnert zu werden. Eine Freiheit von allen Zwängen. Frei zu sein, um meine eigene Meinung zu sagen. Frei zu sein, um meinen Glauben leben zu können.
Der Reformationstag bedeutet für mich, mich daran zu erinnern und mir immer wieder neu bewusst zu machen, welchen Mut Martin Luther aufbringen musste, um seine 95 Thesen an die Kirche zu nageln. Daraus folgt für mich der Ansporn, selbst mutig zu sein und die Freiheit, die mir geschenkt ist, wahrzunehmen und einzusetzen für unsere Kirche und für die, die um mich sind – nicht auszugrenzen und auch die Menschen im Blick zu haben, die nicht in die gewohnten Strukturen passen. Und dies in dem Wissen, dass es Jesus Christus ist, der uns diese Freiheit schenkt und uns den Rücken stärkt.
Allein Christus, allein die Schrift, allein die Gnade, allein der Glaube: Exklusives wird uns hier angeboten, Alleinstellungsmerkmale kreiert. Was ist wertvoll, wenn nicht das, was es nur einmal, allein gibt? Das Copyright auf diese Alleinstellungsmerkmale hat aber nicht der Reformationstag. Das alles macht den Glauben der Christen insgesamt aus, zieht sich als rote Linie durch die biblischen Schriften.
Der Reformationstag erinnert mich an das bekannte Cranach-Bild in der Stadtkirche in Wittenberg: Zu sehen ist, wie Martin Luther als Prediger mit dem Finger auf den gekreuzigten Jesus Christus mitten in der Kirche zeigt. Es ist eine Erinnerung daran, dass er es ist, der in der Mitte des Glaubens stehen und bleiben sollte. Und trotzdem ist es wichtig, neue Plattformen nicht zu scheuen und sich zu erneuern. Es braucht Reflexion und Mut, sich konstant zu fragen: Was steht in der Mitte und wie verkündige ich es? Das Bild erinnert mich daran, dass ohne Lucas Cranach und Gutenberg die Reformation nicht möglich gewesen wäre. Es hat Mut gebraucht, neue Medien zu nutzen und die Sprache zu verwenden, die die Menschen sprechen. Es braucht Mut, Neues auszuprobieren, aber das Zentrale nicht zu verlieren. Meiner Meinung nach ist es die Hauptaufgabe der Kirche, die Liebe Gottes zu den Menschen und unseren Mitgeschöpfen in modernen Worten auszudrücken.
Der Reformationstag ist jedes Jahr aufs Neue eine gute Erinnerung daran, dass Veränderung und Erneuerung möglich ist – auch in der Kirche. Es reicht aber nicht, wenn wir bei der bloßen Erinnerung stehen bleiben. Ich wünsche mir, dass wir den Reformationstag als Anlass nehmen, über unser „Sein“ als Kirche nachzudenken und uns zu fragen, wo wir alte Wege überdenken müssen. Und das am besten immer mit der Frage im Hinterkopf: Wie kommen wir näher an die Menschen? Wie schaffen wir es wieder, im Leben der Menschen als Kirche – oder besser – als Christenmenschen präsent zu sein. Nahbar und „fragbar“. Wir sollten wissen, was die Menschen umtreibt, damit wir Gottes Botschaft verständlich herüberbringen können.