Corona mag uns in diesem Jahr wieder einmal das Singen verleiden, aber ein Weihnachten ohne „Stille Nacht, heilige Nacht“ kann es nicht geben. Helene Fischer singt es, Jose Carreras singt es, Max Raabe singt es, ja sogar Simone Sommerland, Karsten Glück und die Kitafrösche singen es. In über 230 Sprachen ist es bislang übersetzt worden, kaum ein Land auf dieser Erde, in dem nicht „Stille Nacht“ an Weihnachten gesungen, gehört und zur Aufführung gebracht wird. Was macht dieses Lied so besonders? Und warum lohnt es sich, die verschollenen Strophen wiederzuentdecken? Pfarrer Dr. Jan Peter Grevel ist in die Archive der Kirchenmusik gestiegen und hat es herausgefunden.
Die einen singen es etwas verschämt mit, wenn es ertönt, andere aus voller Kehle – zumindest vor Corona. Till Brönner spielt es meisterhaft auf der Trompete und die stillen Meister an den Dorfkirchenorgeln wissen genau, wie viel Schmelz das Lied im Heiligabend-Gottesdienst braucht. Spätestens in der dritten Strophe, bei den Worten, die dem neugeborenen Jesuskind gelten – „Schlaf in himmlischer Ruh“ – führt die Orgel die ergriffene Gesangsgemeinde in höchste Himmels-Höhen.
„Stille Nacht“ ist anders als andere Weihnachtslieder und daher hat es auch erst spät seinen Weg ins Evangelische Gesangbuch gefunden. Das berühmteste Weihnachtslied der Welt wurde tatsächlich erst 1995 ganz offiziell in den Stammteil des Evangelischen Gesangbuchs aufgenommen. Und auch das katholische „Gotteslob“ tat sich lange schwer mit dem Lied aus dem Salzburger Land.
Woher kommt also die ungebrochene Begeisterung für dieses Lied? Und warum steht es wie kaum ein anderes Lied für die Stimmung an Heiligabend?
Als das Lied vor über 200 Jahren entstand, gab es viele der klassischen Weihnachtslieder schon. Genau das war aber auch das Problem. Viele der Weihnachtslieder stammten aus der Reformationszeit und übersetzen die theologischen Kernbotschaften von Weihnachten in die Sprache des Liedes. Und die großartigen Paul-Gerhard-Lieder bewahrten später bei aller Innigkeit und stiller Weihnachtsfreude genug Abgründigkeit, die sich aus den Lebenserfahrungen des größten evangelischen Liederdichters speist, und dadurch vielen Menschen in ihrem Leben und ihren Erfahrungen bis heute ein Beistand sind.
„Stille Nacht“ dagegen ist anders. Und dazu trägt vor allem seine unverwechselbare Melodie bei. Der Germanist und Musikwissenschaftler Hermann Kurzke schreibt die Wirkung des Liedes vor allem „seiner Terzenseligkeit, seinem weihevoll wiegenden Sechs-Achtel-Takt, seinen mit lustvollen Glissandi ausgesungenen Vorhaltnoten und seiner primitiven Gitarrenbegleitung“ zu. Und der Text? Der „Knabe im lockigen Haar“ steht für viele unter Kitsch-Verdacht. Wieviel tiefe Weihnachtstheologie dennoch in dem Lied enthalten ist, erschließt sich erst auf den zweiten Blick.
Um die Entstehung des Liedes ranken sich – wie könnte es anders sein – zahlreiche Legenden. Gesichert ist, dass erstmals am 24. Dezember 1818 der Hilfspriester Joseph Mohr und der Organist Franz Xaver Gruber für die Gemeinde Oberndorf bei Salzburg zweistimmig und mit Gitarrenbegleitung „Stille Nacht“ zu Gehör brachten. Mittlerweile gilt als sicher, dass Mohr den Liedtext bereits zwei Jahre zuvor geschrieben hatte. Lange hielt sich die Überlieferung, die kurz vor Weihnachten durch eine Kirchenmaus defekt gewordene Kirchenorgel in der Oberndorfer Kirche hätte spontan die beiden Freunde zu diesem Lied inspiriert. Vermutlich galt das Lied für die Verwendung im Gottesdienst im streng liturgischen Sinn als überhaupt nicht spielbar. Das lag an der romantisch-volksliedhaften Sprache, aber vor allem an der damals im Salzburger Land noch völlig unbekannten Gitarrenbegleitung. Als Mohr bei der Uraufführung, die direkt nach dem Gottesdienst stattfand, seinen Gitarrenkoffer öffnete um mit dem Spiel zu beginnen, hielten viele Zuhörer den Koffer – so eine weitere Legende – für einen Insektenkasten.
Wie ein Krimi mutet die Rekonstruktionsarbeit an, die die Musikwissenschaft, die Kirchen- und Liturgiegeschichte in den letzten Jahren geleistet hat. Die „Stille-Nacht-Gesellschaft“ – die ist übrigens keine Legende! –, informiert die Öffentlichkeit regelmäßig über Forschungsfortschritte und hat wie Renate Ebeling-Winkler, die die Geschichte des Liedes wohl besser als alle anderen kennt, so manches Rätsel lösen können.
Dreizehn Jahre nach der denkwürdigen Uraufführung begegnet das Lied erstmals außerhalb Tirols. 1831 sangen es die Geschwister Strasser aus Tirol auf der Leipziger Messe – by heart. Damals gab es bekanntlich weder Internet noch Kopierer und so brauchte es den Geschäftssinn des Dresdner Buchhändlers August Robert Friese, Noten und Text mitschreiben zu lassen und später zu veröffentlichen. Dieser Augenblick ist wohl der entscheidende für die weitere Verbreitung des Liedes gewesen. Und übrigens auch für die Verbreitung des bislang katholischen Liedes im evangelischen Kulturraum. Der Kirchenmusiker Carl Gottlob Abela übernahm das Lied wenige Jahre später in seine Liedersammlung und weil er seit 1842 Gesanglehrer im berühmten Franckeschen Waisenhaus in Halle war, lernten die Kinder dieses Lied singen und verbreitete es weiter.
Hier in Halle lernte auch der Gründer des Rauhen Hauses in Hamburg, Johann Heinrich Wichern, das Lied kennen. Er übernahm es für das jugendliche Liederbuch „Unsere Lieder“ und machte es auch im Norden populär. Viele Auswanderer, die vom Hamburger Hafen aus in die neue Welt aufbrachen, hatten das Liederbuch und damit „Stille Nacht“ im Gepäck. Der Siegeszug des Liedes um die Welt begann.
Wichern trug aber nicht nur zur Verbreitung des Liedes bei, sondern veränderte es auch maßgeblich! Bereits in der ersten Auflage seines Liederbuches, wo das Lied den Titel „Freude am Christkind“ trug, hatte Wichern drei der ursprünglich sechs Strophen gestrichen und die bislang letzte Strophe zwischen die beiden ersten verschoben. Damit wird die ursprüngliche Statik des Liedes verändert. Mohr und Gruber wollten das Lied bewusst an der Krippe beginnen lassen und so skizzieren die beiden ersten Strophen eine weihnachtliche Krippenidylle um das hochheilige Paar mit dem Knaben im lockigen Haar. Aber bereits die ursprünglich dritte (und später von Wichern gestrichene) Strophe hebt die idyllische Szenerie in die Universalität der Heilsgeschichte:
Stille Nacht! Heilige Nacht!
Die der Welt Heil gebracht;
Aus des Himmels goldenen Höh’n
Uns der Gnaden Fülle lässt seh’n:
Jesum in Menschengestalt!
Jesum in Menschengestalt!
Die Universalisierung dieses Geschehens, typisch für die katholisch-josephinische Aufklärung, von der auch Joseph Mohr geprägt war, setzt sich in der ebenfalls von Wichern gestrichenen vierten Strophe fort. Dort hieß es emphatisch: „…und als Bruder huldvoll umschloss Jesus die Völker der Welt!“ Besonderes Augenmerk verdient die ursprünglich fünfte Strophe. Dort heißt es:
Stille Nacht! Heilige Nacht!
Lange schon uns bedacht,
Als der Herr vom Grimme befreit,
In der Väter urgrauer Zeit
Aller Welt Schonung verhieß!
Aller Welt Schonung verhieß!
Damit spielt Mohr auf die Verheißung eines Friedens der Welt an, die Gott nach der Sintflut Noah in der Genesis verheißt. Und sie ist der Hoffnungsgrund für die Sehnsucht nach Frieden während der Napoleonischen Kriege, die Mohr mit vielen Menschen seiner Zeit schmerzhaft teilte.
Wichern hat diesen Dreischritt aufgelöst und die Idylle der Krippe in den Mittelpunkt gerückt. Gleichzeitig hat er die für seine Ohren dogmatischen Klippen, die der Text bot, mit gezielten Eingriffen umschifft. Der lutherische Theologe Wichern nahm Anstoß an der im Lied fehlenden Rede von der Göttlichkeit Jesu. Und so wurde aus Jesus „Christus“. Auch das „hochheilige Paar“ schien ihm für protestantische Ohren fremd und er ersetzte es durch „seliges Paar“. Ausgerechnet diese Veränderung konnte sich aber nicht durchsetzen und wurde später wieder gestrichen. In der englischen Übersetzung, die in der anglikanischen Kirche bis heute gebräuchlich ist, wurde übrigens aus der Liedzeile „Alles schläft, einsam wacht nur das hochheilige Paar“ ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswertes „All is calm, all is bright/Round yon Virgin mother and child.“ Dieses Paar besteht nicht mehr aus Maria und Josef, sondern aus Mutter und Kind. Und weil man sich damals in englischen Weihnachtsgottesdiensten keine Neugeborenen mit lockigem Haar vorstellen konnte, wurde daraus „Holy infant so tender and mild“.
Bemerkenswert ist auch, dass Wichern das Lied „Stille Nacht“ später nicht in das ebenfalls vom Verlag des Rauhen Hauses veröffentlichte „Allgemeine Evangelische Gesang- und Gebetbuch zum Kirchen- und Hausgebrauch“ aufnahm. Das Lied war für weihnachtliche Feiern und für Kinder gedacht, aber nicht für den Weihnachtsgottesdienst, ganz ähnlich war es bei dem bis heute ähnlich populären Weihnachtslied „O, du fröhliche“.
Seine Popularität verdankt das Lied seit Mitte des 19. Jahrhunderts also weniger seinem gottesdienstlichen Gebrauch als vielmehr den weihnachtlichen Feiern in Schule und Familie. Vieles, was uns heute an weihnachtlichen Bräuchen wie dem geschmückten Tannenbaum überliefert ist, stammt aus dieser Zeit.
Das Kirchenfest Weihnachten wird so im 19. Jahrhundert immer stärker zu einem Haus- und Familienfest. Die Inszenierung dieses Festes hebt die Familie und ihr Zuhause in religiöse Höhen. Um die Familie zu feiern, wird am Abend des 24. Dezembers eine Grenze zwischen „dem gesellschaftlichen Draußen und der intimen Privatheit der Familiensphäre“ gezogen, so der Theologe Matthias Morgenroth in seinem Buch über das Phänomen des Weihnachtschristentums. Und für die Feier und mögliche Überhöhung der bürgerlichen Familie steht an Weihnachten kein anderes Lied so sehr wie „Stille Nacht.“
Thomas Mann hat in seinem großen Roman „Buddenbrooks“ diesem bürgerlichen Weihnachtsfest und damit „Stille Nacht“ ein Denkmal gesetzt. Nachdem sich die Familie im Haus versammelt hat und die Kinder bereits über ihre Geschenke nachdenken, beginnt die Feier mit dem Verlesen der Weihnachtsgeschichte. Darauf folgt „Stille Nacht“. Schließlich schreiten Junge und Alte gemeinsam gerührt in das Weihnachtszimmer. Die Wirkung des Liedes ist enorm: „Frau Permaneder sang es mit bebenden Lippen, denn am süßesten und schmerzlichsten rührt es an dessen Herz, der ein bewegtes Leben hinter sich hat und im kurzen Frieden der Feierstunde Rückblick hält.“
Man wird vermuten dürfen, dass auch bei den Buddenbrooks die Strophenauswahl von Wichern zu Gehör kam. Diese fast sentimentale Verwendung des Liedes feiert im 1. Weltkrieg ein seltsames Nachleben. In zahlreichen Schützengräben wurde es gespielt und mitgesungen – ganz besonders eindrücklich 1914, als die Feindeslager in Frankreich und Belgien über das Lied im Gesang zu einer Weihnachtsruhe zusammenfanden.
Bei der Feier von Familie und Haus ist das hochheilige Paar und der Knabe mit lockigem Haar bis heute ganz in seinem Element. Oder doch nicht? Oder zumindest nicht ganz und gar? So heimelig wie bei Thomas Mann oder Wichern ist das Lied in seiner ursprünglichen Gestalt und Kraft am Ende ja gar nicht, sondern eher im Gegenteil weltverbindend und ja, auch zutiefst politisch. Es ist wohl beides: innig und aushäusig, idyllisch und umwälzend, kleinfamiliär und universal. Und so sei allen bei nächster Weihnachtsgelegenheit empfohlen, das Lied einfach zweimal zu singen. Einmal auf drei Strophen eingekürzt und dann in voller Länge. Denn die Völker der Welt gehören zu „Stille Nacht“ dazu.
Über den Autor: PD Dr. Jan Peter Grevel ist Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Derzeit versieht er die Stabsstelle „Visitation und theologische Grundsatzfragen“ bei Landesbischof Dr. h. c. Frank Otfried July. Seit 2014 ist er Privatdozent für Praktische Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt.