Das Landeskirchliche Archiv sorgt nicht nur für die Bewahrung und Erhaltung wichtiger, kirchenhistorischer Dokumente, sondern erlaubt auch vielen Menschen, ob Privatpersonen oder Forschungseinrichtungen, Zugriff darauf. Private Archivalien, wie beispielsweise Tagebücher, sind dafür eine große Hilfe. Prof. Dr. Norbert Haag, Leiters des landeskirchlichen Archivs, stellt es hier vor.
Im September 1935 vertraute der neu ernannte Dekan von Herrenberg, Theodor Haug, seinem Tagebuch an, dass „das Aber [gegen den Nationalsozialismus] nicht bloß am Anfang“ gewesen sei. „Ich mußte mich sehr an die Hakenkreuzfahne gewöhnen, sie tat meinem Auge fast körperlich weh, und das Unnatürliche des Hitlergrußes konnte ich nur schwer auch nur einigermaßen überwinden. […] Während des Jubels in Potsdam, am 21. März 1933, sah ich schmerzhaft deutlich die kommende Enttäuschung und neues Blutvergießen und mußte es in etlichen Versen niederschreiben. Leider hat mir die Entwicklung nur zu Recht gegeben.“
Diese schlichten Worte sind alles andere als banal. Denn sie belegen, dass es im deutschen Protestantismus bereits sehr früh, lange etwa vor der berühmten Barmer Erklärung vom Mai 1934, Menschen gab, die nicht bereit waren, in den Chor begeisterter Ja-Sager gerade auch evangelischen Glaubens einzustimmen, die dem Tag von Potsdam sein Gepräge gaben. Um diesen Menschen eine Stimme zu geben, bedarf es entsprechender Nachweise – in diesem Fall einen Eintrag in einem Tagebuch.
Das Tagebuch des Herrenberger Dekans ist zwischenzeitlich nicht mehr auffindbar. Von seinem Inhalt – etwa dem Eintrag zum Tag von Potsdam – wissen wir nur, weil eine Nachfahrin des Herrenberger Dekans seinerzeit so freundlich war, den Tagebuchauszug dem Verfasser dieser Zeilen zur Verfügung zu stellen. Leider konnte sie sich nicht dazu entschließen, dem Landeskirchlichen Archiv das Tagebuch im Original oder als Kopie zur Verfügung zu stellen. Dieser Verlust ist unwiederbringlich.
Bewahren
Dieses Beispiel illustriert eine der wichtigsten Aufgaben eines jeden Archivs: die Bewahrung wichtiger Unterlagen der Vergangenheit für die Gegenwart. Die in den Archiven verwahrten Dokumente können ihrerseits höchst unterschiedlichen Zwecken dienen. Es kann beispielsweise darum gehen, kirchliche Entscheidungsprozesse nachvollziehen oder kirchliche Rechtsansprüche dokumentieren zu können – muss sich etwa eine Kommune aufgrund vertraglicher Verpflichtungen aus der Vergangenheit an den Unterhaltskosten kirchlicher Gebäude beteiligen? Vor allem aber geht es darum, das reiche geschichtliche Erbe unserer Kirche im Bewusstsein der Gegenwart präsent zu halten – sowohl innerkirchlich als auch gesamtgesellschaftlich. In einer Zeit, in der das Bewusstsein dafür, was die evangelische Kirche für die Gesellschaft tat und tut, zu schwinden droht, scheint mir dies wichtiger denn je zu sein. Es geht auch um den Verkündigungsauftrag unserer Kirche.
Für die Nutzung bereitstellen
Archive sind kein Selbstzweck. Sie wollen, dass mit den von ihnen verwahrten Unterlagen gearbeitet wird. Dies ist – unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen, insbesondere Schutzfristen – allen möglich, die ein berechtigtes Interesse geltend machen. Dementsprechend vielfältig sind die Nutzer und Nutzerinnen. Und ihre Interessen sind es auch: Das Spektrum reicht von der Familienforschung bis zur akademischen Spitzenforschung. So sind zwischenzeitlich sämtliche älteren Kirchenbücher (bis 1875) unserer Landeskirche über ein EKD-weites Internetportal recherchierbar, das von genealogisch Interessierten rege genutzt wird (www. archion.de).
Mit Beständen im Umfang von ca. 14.000 laufenden Metern gehört das Landeskirchliche Archiv Stuttgart zu den größten Archiven der EKD. Verwahrt werden die Unterlagen des sogenannten Konsistoriums und seines Nachfolgers, des Oberkirchenrats, der Landessynode, der Dekanat- und zahlreicher Pfarrämter, wichtiger Einrichtungen der Diakonie, aber auch Nachlässe aus privater Herkunft.
Die Überlieferung des Landeskirchlichen Archivs setzt im 16. Jahrhundert ein, wird aber im Regelfall erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dichter. Warum ist das so?
Ein entscheidender Grund lässt sich den Totenregistern von Neuenstadt zeigt: Das Jahr 1623 zeigt eine „normale“ Sterblichkeit. Das Kirchenbuch aus dem Jahr 1634 dokumentiert jedoch mit seinen bestürzend langen Aufzählungen die Situation im Jahr 1634, dem Jahr der Nördlinger Schlacht und damit aus der Zeit des 30jährigen Krieges. Die Folgen von Krieg, Teuerung und Pest, die mehr als ein Drittel der damaligen Bevölkerung Württembergs dahinrafften, sind augenfällig. Den Trost des Evangeliums unter diesen Bedingungen gespendet zu haben, gehört zu den großen Leistungen des württembergischen Pfarrstandes.
Zu den wichtigsten Hilfsmitteln, die den evangelischen Geistlichen des 16. und 17. in ihrem Amt zur Verfügung standen, zählen Predigtsammlungen. Im Unterschied zu den Bergen an gedruckter Literatur, die aus dem 16. und 17. Jahrhundert auf uns gekommen sind und in der Landeskirchlichen Zentralbibliothek verwahrt werden, sind handschriftliche Sammlungen ausgesprochen selten.
Die Archivierung digitaler Daten stellt die wohl größte archivische Herausforderung der Zukunft dar. Sie ist auch aus Sicht des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart nicht mehr im Alleingang zu bewältigen. Die evangelischen und katholischen Archive des Landes Baden- Württemberg – Karlsruhe und Stuttgart, Freiburg und Rottenburg – haben sich daher in enger Anlehnung an das Landesarchiv gemeinsam auf den Weg gemacht und ein Digitales Archiv ins Leben gerufen. Erste Bestände wurden bereits erfolgreich übernommen. Vieles aber ist noch zu tun.
Dem digitalen Archiv wird die Zukunft gehören. Wer hier nicht „mitspielen“ kann, hat keine oder eine bestenfalls düstere Zukunft. Deswegen werden auch wichtige analoge Quellen aus dem Landeskirchlichen Archiv – wie etwa Visitationsunterlagen – nachträglich digitalisiert und im Netz bereitgestellt.
Das Internetportal „Württembergische Kirchengeschichte“ online zählt zu den jüngsten Gemeinschaftsprojekten von Landeskirchlichem Archiv und Verein für württembergische Kirchengeschichte. Es bietet auf seiner jetzigen Ausbaustufe in zeitgemäßer Form grundlegende Informationen zu den Epochen württembergischer Kirchengeschichte, interessanten Themen, wichtigen Persönlichkeiten und bedeutenden Institutionen und ist im evangelischen Deutschland singulär. Auch ein Blog ist integriert, in dem unterschiedliche kirchengeschichtliche Themen behandelt oder interessante Quellenfunde präsentiert werden.
Aktuell wird ein neuer Baustein angedacht, der auf die Gemeinden unserer Landeskirche zielt und in einem ersten Schritt wichtige Erinnerungsorte württembergischer Kirchengeschichte und wichtige Kirchen des Landes in den Blick nehmen wird. Die genannten Orte und Kirchen werden auch über eine Karte angesteuert werden können.
Archiv und Verein für Württembergische Kirchengeschichte:
Zum Verein für württembergische Kirchengeschichte
Der 1920 gegründete Verein für württembergische Kirchengeschichte gehört selbst zu den ältesten kirchengeschichtlichen Vereinen des evangelischen Deutschlands. Auf eine noch längere Tradition darf die Vereinszeitschrift Blätter für württembergische Kirchengeschichte zurückblicken, die erstmals 1876 erschien. Sie gehört neben der wissenschaftlichen Reihe Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte, auf die bereits Bezug genommen wurde, zu den wichtigsten Publikationen des Vereins. Er hat es sich zum Ziel gesetzt, „die Erforschung der Kirchengeschichte Württembergs einschließlich der kirchlichen Kunstgeschichte im Rahmen der historischen Wissenschaften zu erforschen, sich an der Sicherung und Erhaltung von historischen Zeugnissen zu beteiligen sowie die Ergebnisse der Forschung breiten Kreisen zu vermitteln“ – so die Vereinssatzung.
Kirchengemeinden, die Mitglied im Verein sind, stehen darüber hinaus mehrere Ausstellungen zu Verfügung, die kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Ferner unterstützt sie der Verein bei kirchengeschichtlichen Jubiläen oder sonstigen kirchengeschichtlichen Aktivitäten.
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