Ulrike Schaich, Gemeindepfarrerin in Altdorf, geht in ihrer Arbeit neue Wege: Seit 1. Juni bietet sie im Kirchenbezirk Nürtingen im Auftrag der Landeskirche Gottesdienste und Pilgerwanderungen an, bei denen sie auch Lamas einsetzt. Diese 50-Prozent-Stelle wurde im Rahmen des Fonds „Neue Aufbrüche“ geschaffen. Was ungewöhnlich klingt, hat auch einen wissenschaftlichen Hintergrund: Lamas werden wegen ihres Charakters schon lange als Therapietiere eingesetzt.
Sonntagnachmittag auf einer Weide in Reutlingen-Ohmenhausen: Mehrere Familien sitzen verteilt auf der Wiese, dazwischen bewegen sich fünf Lamas. Deren „Chefin“ Luna schnuppert an einem Klappstuhl, geht anschließend auf einen Besucher zu - so nahe, dass sie fast dessen Gesicht berührt. Er lacht und zieht seinen Kopf ein wenig zurück. „Willkommen im Wohnzimmer der Lamas“, begrüßt Pfarrerin Ulrike Schaich ihre Gemeinde zum Gottesdienst mitten auf der Lama-Wiese.
Bereits seit acht Jahren hält die 54-jährige Theologin mehrere der wolligen Tiere aus Südamerika. Jetzt kann sie ihre Vierbeiner auch in ihrem Beruf einsetzen: Seit dem 1. Juni hat sie dafür eine befristete 50-prozentige Projektstelle der württembergischen Landeskirche im Rahmen des Fonds „Neue Aufbrüche“.
Pfarrer Dr. Johannes Reinmüller, der die Projektpfarrstelle „Neue Aufbrüche“ innehat, schätzt Ulrike Schaichs Arbeit: „Es gibt immer mehr Menschen, die nie eine Kirche oder ein Gemeindehaus betreten – aber gerne zu einer Pilgerwanderung mit Lamas oder zu einem Gottesdienst auf der Lama-Weide kommen. Ulrike Schaich erreicht mit ihrer Innovationspfarrstelle ‚Schöpfungsspiritualität‘ auf eine kecke und ungezwungene Weise Menschen, denen damit das Herz nicht nur für Lamas, sondern auch für das Evangelium aufgehen kann.“
Es geht Schaich um ein respektvolles Miteinander von Menschen und Tieren. Tiere seien nicht einfach ein Nahrungsmittel, sagt Schaich, sondern Mitgeschöpfe – und könnten sogar zu Freunden oder besonderen Familienmitgliedern werden. Darin knüpfe sie an den Heiligen Franz von Assisi an, der das Verhältnis zwischen Tier und Mensch als eine Geschwisterbeziehung gesehen hat. „Wenn wir Gottes Beziehung zu den Tieren und zur Erde als nebensächlich liegenlassen, verpassen wir viel Erkenntnis über Gott.“ In einem respektvollen Umgang mit Tieren und Pflanzen, dem Boden und den Mitmenschen finde der Mensch seinen Platz auf der Erde, erklärt die Pfarrerin.
Ulrike Schaich entdeckte bereits als junges Mädchen ihre Begeisterung für Lamas: Mit ihrem Großvater durfte sie als Neunjährige nach Ecuador reisen, wo ihre Tante lebte. Dort erlebte sie die Geburt eines Lamafohlens – eine Szene, an die sie sich bis heute erinnert.
Die Theologin veranstaltet auch Pilgerwanderungen mit Lamas. Die Tiere aus dem Andengebirge sind für Ulrike Schaich ideale Begleiter, mit denen man „auf Augenhöhe“ wandern könne. Durch ihre Gelassenheit und ihren Gleichmut übten sie einen positiven Einfluss auf die Pilgerinnen und Pilger aus.
Diese Eigenschaften wissen auch Pädagogen und Psychologen zu schätzen. Sie setzen Lamas schon seit Langem in der Sonder- und Erlebnispädagogik sowie der Psychotherapie ein. Die Beschäftigung mit den ruhigen, aber aufgeschlossenen Tieren fördert beim Menschen zum Beispiel soziale Kompetenzen und Bewegungskoordination. Sie werden auch im Team-Coaching und zur Behandlung von Tierphobien eingesetzt. So schreibt etwa Heike Höke: „Die tiergestützte Therapie mit Neuweltkameliden wird immer populärer, in vielen pädagogischen und therapeutischen Projekten werden Lamas und Alpakas mit großem Erfolg eingesetzt.“*
Mit verschiedenen Gruppen pilgerte Ulrike Schaich bereits auf dem Jakobsweg - aber auch auf unbekannteren Wegen in der Umgebung. Die längste Strecke am Stück - gut 70 Kilometer - haben die Tiere 2019 zurückgelegt, als der 4. Ökumenische Pilgerweg für Klimagerechtigkeit von Münster, Ort des Katholikentags, zum Evangelischen Kirchentag nach Dortmund führte. Dieser Marsch mit den beiden Lamas „Luna“ und „Cuzco“ sollte ein Zeichen für die Verbindung der Konfessionen sein, außerdem für den Einsatz gegen den Klimawandel.
Schaich findet es immer wieder erstaunlich, wie aus einer kleinen Gruppe Tiere und Menschen beim Pilgern eine „Herde“ entsteht. „Die Lamas sind Herdentiere und klinken sich einfach in die Gruppe ein“, erzählt sie. Unaufgefordert hielten sie zum Beispiel gemeinsam mit ihren menschlichen Pilgerkameraden vor roten Ampeln und überquerten ohne Zögern die Straße, wenn die Ampel auf Grün schalte. Bei einer Tour hätten die Lamas sogar auf einen Mann mit Gehproblemen gewartet, bis dieser wieder Anschluss zur Gruppe gefunden habe, erinnert sich Schaich.
Der Gottesdienst auf der Lama-Weide in Reutlingen-Ohmenhausen geht nach einer Stunde zu Ende. Die Pfarrerin hofft, dass die Besucher in der Zeit den „Frieden zwischen Gott, Menschen, Tier und Erde erfahren konnten“, sagt sie. „Wenn ich solche Momente erlebe, weiß ich, dass sich ein Leben in der Verbundenheit mit der Schöpfung lohnt.“
Nun dürfen die Kinder die Lamas führen und streicheln. Mit einem Klischee räumt Ulrike Schaich dabei auf: Nein, artgerecht gehaltene Lamas spuckten keine Menschen an. Dies machten sie nur, wenn sie sich gegenüber anderen Lamas verteidigen wollten, erklärt die Pfarrerin noch - und eilt dann schnell zum „Altar“, einem Tisch mit Kreuz und Blumengesteck. Denn dort inspiziert eine Lamastute jetzt einmal genauer, was die menschlichen Gäste an diesem Sonntagnachmittag mit auf ihre Wiese gebracht haben. Es scheint ihr zu gefallen: Genüsslich kaut sie am Blumenschmuck.
Hinweis: Am 27. Juni findet Ulrike Schaichs Einführung in ihre neue Aufgabe im Rahmen eines Freiluft-Gottesdienstes in Altdorf statt.
* Heike Höke in der Fachzeitschrift LAMAS, Ausgabe Sommer 2006, Artikel „Das Therapiebegleitlama / Therapiebegleitalpaka“
Unter Verwendung von epd-Material