| Landeskirche

Mobile Jugendarbeit in der Pandemie

Potenziale unterstützen und pflegen

Mit Beginn der Corona-Pandemie sind für Jugendliche und junge Erwachsene viele Freizeitangebote und Möglichkeiten zum direkten Austausch weggefallen. Drei Stimmen aus Stuttgart und Göppingen sowie der Landeskirche erklären, wo die aktuellen Herausforderungen der diakonischen und kirchlichen Jugendarbeit liegen und wie die Arbeit mit Jugendlichen vor Ort aktuell gelingen kann. 

Jugendliche müssen sich ausprobieren, unter sich sein, die Welt erkunden - das war schwer in Zeiten des Lockdowns. Jan Vašek/Pixabay

In der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 lieferten sich in Stuttgart Dutzende Kleingruppen Straßenschlachten mit der Polizei.  Nach einer Drogenkontrolle hatten Jugendliche, heftigen Widerstand geleistet. Die Situation eskalierte, bis zu 500 Personen, zumeist junge Männer, randalierten in der Innenstadt, hoben Pflastersteine aus dem Asphalt, zerstörten Werbetafeln, warfen Schaufensterscheiben ein und plünderten Geschäfte, griffen Menschen an. Frustration und Wut entluden sich mit bislang kaum gekannter Wucht.

Wir haben Menschen befragt, die sich täglich mit den Bedürfnissen und Lebenswelten von jungen Menschen befassen. Sie berichten uns, mit welchen Angeboten sie auf die gegenwärtigen Herausforderungen reagieren und wie Kirche und Gemeinden einen Beitrag leisten können.


Mobile Jugendarbeit in Stuttgart

Simon Fregin ist Projektleiter der Mobilen Jugendarbeit Innenstadt/Europaviertel in Stuttgart.Privat

Der Sozialarbeiter Simon Fregin ist seit 2020 Projektleiter „Mobile Jugendarbeit Innenstadt/Europaviertel“, die unter anderem von der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart e.V. und dem Evangelischen Kirchenkreis Stuttgart getragen wird. Dieses Projekt ist eine Wiederbelebung der Mobilen Jugendarbeit in der Innenstadt, die 2018 aus Kostengründen beendet worden war. Im Rahmen der Ereignisse vom 20./21. Juni 2020 wurde sie wieder ins Leben gerufen.

Die MJA in der Innenstadt und im Europaviertel ist, so Fregin, einer der zentralen Bausteine, um die Ursachen der sogenannten Krawallnacht zu verstehen. Sie hat zur Aufgabe, die Kommunikation zwischen Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft, Polizei etc. auf der einen und jungen Menschen auf der anderen Seite zu verbessern. Bedarfsgerechte Angebote sollen entwickelt werden. Ein damit verbundenes großes Ziel ist nicht weniger als die Entstehung einer „jugendgerechten Innenstadt“ – nämlich laut Projektbeschreibung „demokratisch, solidarisch, gewaltfrei, inklusiv, gerecht und frei zugänglich“. Acht Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter wirken bei dem Projekt mit, vier davon von der Evangelischen Gesellschaft und vier von der Caritas Stuttgart.

Der Eckensee an der Stuttgarter Staatsoper ist ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche und junge Erwachsene.Portraitor/Pixabay

Wie können wir uns das vorstellen: Wann sind Sie „auf der Straße“ unterwegs und mit wie vielen und mit welchen jungen Menschen haben Sie Kontakt?

Simon Fregin: Oft gehen wir ab 17 Uhr in die Innenstadt, bis in die Nacht hinein. Vom 27.Januar bis 6. März 2021 zum Beispiel haben wir bei insgesamt 16 dokumentierten Streetworkgängen im Europaviertel und in der Stuttgarter Innenstadt mit 223 Jugendlichen und jungen Erwachsenen gesprochen, 183 männlichen und 40 weiblichen. Die Gruppengrößen variieren von Einzelpersonen bis zu einem Gespräch mit insgesamt 20 Personen. Wir waren im genannten Zeitraum mit bis zu fünf Mitarbeitenden gleichzeitig „auf der Straße“. Wir begleiten junge Menschen, die einen Großteil ihrer Freizeit im öffentlichen Raum verbringen. Diese haben oft multiple Unterstützungsbedarfe: Schulden, Probleme in der Schule/Schulverweise, Arbeitslosigkeit, keine Ausbildung, Perspektivlosigkeit, Suchtmittelkonsum, Fluchterfahrungen, Beziehungsabbrüche, Diskriminierungserfahrungen, das Gefühl nicht gehört zu werden, geringes Selbstbewusstsein und geringes Selbstwertgefühl, wenig Möglichkeiten Anerkennung zu bekommen u. v. m. Während wir unter der Woche und freitags fast nur Stuttgarterinnen und Stuttgarter antreffen, liegt bei den von uns angesprochenen Heranwachsenden der Anteil an jungen Menschen aus anderen Landkreisen und Städten am Samstag bei ca. 50 Prozent von Schwäbisch Hall bis zum Rand der Alb.

Von welchen Bedürfnissen der jungen Menschen haben Sie bei Ihren Streetworkgängen inzwischen erfahren?

Simon Fregin: Zentral ist der Wunsch nach Anerkennung und Respekt. Und vielen fehlt eine Zukunftsperspektive: Junge Geflüchtete zum Beispiel müssen oft jahrelang auf eine Entscheidung durch das BAMF warten. Unserer Erfahrung nach wollen alle jungen Menschen produktiv, gut ausgebildet und eigenständig sein. Delinquentes Verhalten, abweichendes Verhalten etc. sind in der Regel Reaktionen auf unklare Zukunftsperspektiven oder das Gefühl, „eh nichts erreichen zu können“. Bürokratie, die Abhängigkeit vom Schulabschluss, zugeschriebenes Verhalten und ähnliches können junge Menschen massiv behindern. Dazu ein Zitat aus einer Podcastfolge mit einer jungen Frau: „Wenn dir immer nur gesagt wird: Du bist scheiße, du bist scheiße! Dann bist du irgendwann scheiße“. Insbesondere die Wohnsituation von Familien mit wenig Geld – durch Hartz IV, Zeitarbeit, Mindestlohn etc. – verursacht Probleme. Junge Menschen brauchen eigene (geschützte) Räume. Eine Dreizimmerwohnung, in der fünf Personen wohnen und zwei pubertierende Teenager ein Zimmer teilen müssen, ist kein tragbarer Zustand für eine so reiche Gesellschaft. Diese jungen Menschen verbringen deswegen große Teile ihrer Freizeit im öffentlichen Raum – und dort werden sie negativ wahrgenommen. Doch sie verfügen schlichtweg nicht über andere Möglichkeiten. Es ist uns sehr wichtig, die Bedürfnisse der jungen Menschen zu kennen, und auch, dass diese Gehör finden. In unserem Podcastprojekt www.vox711.de geschieht das ganz explizit, und in unseren Projektberichten, die auch der Gemeinderat liest.

Was erleben Sie an Reaktionen aus der Bevölkerung?

Simon Fregin: Diese können sehr unterschiedlich aussehen: Von Wohlwollen über konkrete Unterstützungsangebote (z. B. hat uns ein Fotograf angesprochen, der auf uns aufmerksam wurde und gerne ehrenamtlich mit jungen Menschen arbeiten möchte), bis hin zu Kritik an unserer Arbeit („Das bringt nichts!“, „anstatt den jungen Menschen Angebote zu machen müsste man ihnen Manieren beibringen“) ist alles dabei.

Was ist eine besondere Herausforderungen in Ihrer Arbeit?

Simon Fregin: Insbesondere nach 20 Uhr (Anmerkung der Redaktion: zum Zeitpunkt des Interviews galt eine coronabedingte Ausgangssperre ab 20 Uhr) merken wir, dass im öffentlichen Raum momentan fast nur einerseits junge Menschen, die feiern wollen, unterwegs sind, und andererseits Polizisten und Polizistinnen, die kontrollieren müssen. Als Erwachsene stehen wir dann unter einer Art Generalverdacht, Polizisten und Polizistinnen zu sein und also zu kontrollieren oder zu sanktionieren.

Haben Sie für die Mobile Jugendarbeit Wünsche an die Kirche?

Simon Fregin: Wir sehen die Kirche und die Kirchengemeinden als wichtige Partner in der Zivilgesellschaft. Die Kirche sollte Anwältin und Sprachrohr für Menschen sein, die im gesellschaftlichen Diskurs häufig nicht gehört werden, deren Bedarfe nicht ernst genommen werden, die „keine Lobby“ haben. Kirche kann auch ein Ort sein, an dem Zugehörigkeit, Heimat, Gemeinschaftsgefühl und Sinn erlebt werden kann. Und sie sollte für ein empathisches Miteinander werben. In Stuttgart sind Kirchengemeinden bereits ebenfalls Träger von Mobiler Jugendarbeit. Eine Kooperation mit unserem Projekt ist angedacht. Dazu könnten Ehrenamt, Räume und Unterstützung bei der Spendenakquise und ähnliches gehören, aber auch eine gemeinsame Mitwirkung in der Stadtteilentwicklung.

Was ist Ihnen persönlich in der Arbeit wichtig?

Simon Fregin: In fast 13 Jahren Mobiler Jugendarbeit habe ich keinen jungen Menschen kennengelernt, der nicht davon geträumt hat „ein gutes Leben zu führen“. Keiner, der oder die nicht ein netter und respektvoller Mensch ist. Häufig sieht man das erst, wenn es gelungen ist eine tragfähige und vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Mensch „gut“ (im Sinne der allgemeinen Wertvorstellung) sein möchte. Dieses Potential müssen wir als Gesellschaft unterstützen und pflegen! Das ist das Schöne an unserer Arbeit, dass wir genau das dürfen.

Die Fragen stellte Pamela Barke


Mobile Jugendarbeit in Göppingen

In Göppingen wurden neue Wege gefunden, um Jugendlichen Austausch und Gespräch zu ermöglichen. Rathaus Göppingen von to.wi Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

Dem Blick auf die Situation in Stuttgart folgt nun der Blick nach Göppingen. Dort ist die BruderhausDiakonie Trägerin zahlreicher Angebote Mobiler Jugendarbeit. Die Kooperation mit Kirchengemeinden ist wesentlicher Bestandteil der Arbeit. Der Diplom-Sozialpädagoge Harald Maas ist leitet bei der BruderhausDiakonie den Bereich „Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit“ in der Region Göppingen. Er erzählt von den Projekten, die mit den und für die Jugendlichen während der Corona-Pandemie entstanden sind.

Die Corona-Pandemie hält die Welt in Atem. Sie stellt auch Kinder, Jugendliche und Familien vor ganz besondere Herausforderungen. Gerade Kinder und Jugendliche sind durch die Pandemie in mehrfacher Hinsicht belastet. Das wird im zweiten Jahr der Krise immer deutlicher. So weist zum Beispiel die sogenannte COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf nach, dass fast jedes dritte Kind/ jeder dritte Jugendliche momentan Hinweise auf eine psychische Belastung zeigt. In einer Lebensphase, die davon geprägt ist, Freunde zu finden, die Welt kennenzulernen, sich auszuprobieren, Grenzen zu testen und auch zu überschreiten, sind die Einschränkungen durch die Coronamaßnahmen besonders schwerwiegend.

Kontaktbeschränkungen bedeuten für Jugendliche immer auch fehlende Sozialisationsmöglichkeiten. Besonders betroffen sind dabei – auch das zeigt die COPSY-Studie deutlich – Kinder und Jugendliche aus sogenannten „sozial schwachen“ Familien. Beengte Wohnverhältnisse, finanzielle Probleme und Zukunftssorgen verstärken hier die Effekte der Krise noch um ein Vielfaches. Umso wichtiger sind Unterstützungsangebote für diese schon vor der Krise vielfach belasteten Kinder, Jugendlichen und deren Familien. „Das Angebot der BruderhausDiakonie im Bereich der Jugendhilfe ist sehr vielfältig“, informiert Pfarrer Prof. Dr. Bernhard Mutschler, Theologischer Vorstand der BruderhausDiakonie. Es umfasst unter anderem offene und mobile Jugendarbeit, stationäre, teilstationäre und ambulante Jugendhilfen, betreutes Jugendwohnen, Hilfen zur Erziehung, Schulen, Schulbegleitungen, Hausaufgabenhilfen, Schulsozialarbeit und soziale Gruppenarbeit, den Fachdienst Assistenz Beratung Inklusion, Jugendmigrationsdienste und Berufseinstiegsbegleitung, Kindertagesstätten, interdisziplinäre Frühförderstellen (zum Beispiel bei Sprachverzögerung), Jugendberufshilfe und projektbezogene Arbeit.

Der Beratungs- und Chillbus ermöglichte Begegnungen unter Einhaltung der Hygieneregeln.BruderhausDiakonie

Alternativen zum Abhängen

Eines dieser Angebote ist die Mobile Jugendarbeit (MJA) in Göppingen. Die Mitarbeitenden dort kennen viele der Jugendlichen, die gerade besonders unter den Einschränkungen leiden. Im letzten Sommer waren sie zeitweise die einzigen verlässlichen Ansprechpartner für die jungen Menschen, und es wurde deutlich: Wenn zuhause die Stimmung immer schlechter wird, kein eigener Garten zur Verfügung steht, Freizeitangebote wie Jugendtreff, Freibad, Kino oder Skatepark geschlossen haben und auch keine Vereinsangebote stattfinden, bleibt für viele Jugendliche nur das „Abhängen“ im öffentlichen Raum. Und dort heizt nicht nur die Sonne die Stimmung schnell auf: Beschwerden wegen Lärmbelästigung und Müll, Verstöße gegen die Coronaverordnungen und Platzverweise waren letzten Sommer an der Tagesordnung. Und das, obwohl die meisten Jugendlichen in Gesprächen sehr viel Verständnis für die Coronamaßnahmen aufbringen. Das Team der MJA ist ständig auf der Suche nach kreativen Lösungen, um trotz aller Beschränkungen die Jugendlichen mit dem größten Bedarf erreichen zu können und um ein wenig Entlastung in ihren Alltag zu bringen.

Der Beratungs- und Chill-Bus

Deshalb tourte im Frühjahr der „Beratungs- und Chill-Bus“ durch Göppingen. Jugendliche, denen zuhause die Decke auf den Kopf fällt, buchten den Bus über das Internet. Dieser bot gut durchlüftete Zelte gegen Regen oder zu viel Sonne, Camping-Stühle, die in Corona-sicherem Abstand aufgestellt werden können, ein offenes Ohr der Mitarbeitenden der MJA und – vor allem – eine legale Möglichkeit, Freunde zu treffen und für ein paar Stunden Normalität zu erleben. „Die Jugendlichen bringen viele Themen ein, die sie belasten“, berichtet Susanne Köber, Mitarbeiterin bei der MJA. „Die angespannte Situation daheim, Stress im ‚Home-Schooling‘, Bußgelder durch die Coronaverordnung, die Sorge, im Herbst keinen Ausbildungsplatz zu finden und die Angst um Verwandte, die an Corona erkrankt sind. Die Jugendlichen sind froh, über diese Sorgen reden zu können.“ Deshalb war der Beratungsbus, der nach zwei Stunden wieder weiterzog, um keine Menschenansammlungen zu produzieren, auch immer ausgebucht.

Die Jugendlichen des Tanzprojekts „Tanzkraftwerk“ filmten sich selbst beim Tanzen - und übermittelten eine Botschaft.BruderhausDiakonie

Virtuelles Empowerment und virtuelle Power: Elterncafés und das „Tanzkraftwerk“

Ein weiterer wichtiger Baustein, um Kinder, Jugendliche und Familien in der Krise zu erreichen, sind digitale Angebote. Schon im letzten Frühjahr hat die BruderhausDiakonie hier verschiedene Konzepte für unterschiedliche Zielgruppen entwickelt. Eltern haben in „Virtuellen Elterncafés“ die Gelegenheit zum Austausch und zur Beratung durch Fachkräfte. Jugendliche werden mit speziellen Projekten in den sozialen Netzwerken angesprochen, die ein wenig Struktur in den Alltag im Lockdown bringen wollen, zu sinnvoller Freizeitbeschäftigung anregen. Vor allem dienen sie dazu, den Kontakt zu den Jugendlichen nicht abreißen zu lassen. So gründete die MJA zum Beispiel eine virtuelle Tanzgruppe mit dem Slogan #stayathome. Innerhalb weniger Tage wurde gemeinsam mit Jugendlichen und der Tanzschule „Tanzkraftwerk“ eine Choreografie entwickelt. Die Jugendlichen filmten sich selbst beim Tanzen, und aus den einzelnen Clips wurde ein Tanzvideo für die sozialen Medien erstellt. Chats und Videokonferenzen halfen der Gruppe bei der Vorbereitung. Der Tanz hatte dabei auch eine wichtige Botschaft, denn alle Jugendlichen trugen einen Mundschutz mit der gemeinsamen Botschaft: „#we stay apart, so we can stop the pandemic together!!!“Jugendliche aus allen gesellschaftlichen Schichten machen in dieser Krise auch die Erfahrung, dass ihre Sichtweise auf die Situation nicht gefragt ist. Sie fühlen sich dadurch nicht ernst genommen und viel zu sehr auf bestimmte Rollen reduziert: zum Beispiel auf Schülerinnen und Schüler (vgl. auch JUCO-Studie der Universität Hildesheim). Die Schaffung von Beteiligungsmöglichkeiten für junge Menschen ist elementarer Auftrag der Jugendarbeit, doch das ist unter den Bedingungen der Pandemie nur extrem eingeschränkt möglich.

Als Diakonie und Kirche gemeinsam die Jugendlichen im Blick haben

„Die Kooperation von Kirche und Diakonie stärken, damit die breit gefächerten Hilfen von möglichst vielen jungen Menschen abgerufen werden können“, hält der Theologische Vorstand der BruderhausDiakonie, Pfarrer Prof. Dr. Bernhard Mutschler, für wichtig. Die Kirche und Diakonie gehörten theologisch und pädagogisch zusammen, „Kirche ist Diakonie, und Diakonie ist Kirche“, formuliert der Theologische Vorstand. Wie sehr Kinder, Jugendliche und Familien unter der Pandemie und ihren gesellschaftlichen Folgen gelitten haben, wird sich wohl erst zeigen, wenn Schulen und Angebote der Jugendarbeit wieder ganz geöffnet haben. Es deutet sich schon jetzt an, dass hier eine weitere „Welle“ auf uns zukommt: aus nicht bearbeiteten familiären Problemen, psychischen Belastungen, Lerndefiziten und einer schwierigen Situation auf dem Ausbildungsmarkt. Im Moment lässt sich das vielfach nur vermuten, denn viele, die sonst in Schule, Jugendarbeit, Kirchengemeinde oder Verein ein wachsames Auge auf soziale Probleme haben, haben momentan nur wenig Kontakt zu Jugendlichen und Familien. Damit Hilfen ankommen können, sei eine Kenntnis von Notlagen wichtig, so Prof. Mutschler: „Hier können Pfarrämter und Kirchen viel beitragen, wenn sie besondere Notlagen oder Bedarfe sehen.“ Gute, vertrauensvolle Zusammenarbeit sei meist auf ein persönliches Kennen der Verantwortlichen angewiesen.

Harald Maas


Landesjugendpfarrer Bernd Wildermuth

Landesjugendpfarrer Bernd Wildermuth weiß, welche Themen Jugendliche und junge Erwachsene beschäftigen. Privat

Bernd Wildermuth ist seit 2008 Landesjugendpfarrer der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Als Geschäftsführer der AEJW (Arbeitsgemeinschaft der evangelischen Jugend in Württemberg) und in der deutschlandweiten aej e.V. (Arbeitsgemeinschaft der evangelischen Jugendarbeit) wirkt er mit an der Entwicklung von zeitgemäßen Strukturen, Angeboten und Projekten für Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Beide Dachverbände sehen sich als Akteure in der Jugendpolitik und als Interessenvertreter von Kindern und Jugendlichen. Wir haben ihn gebeten, seine Sicht auf die aktuelle Situation von Jugendlichen zu schildern.

Sie sind mit Bedürfnissen und Problemen von jungen Menschen vertraut. Worin sehen Sie Ursachen für die drastischen Ausschreitungen von Jugendlichen in Stuttgart im Juni 2020?

Bernd Wildermuth: Wer sich an seine eigene Jugendzeit erinnert, bekommt eine Ahnung davon, welche Bedeutung diese Zeit hat. Erste Lieben, das Schmieden von Freundschaften, die meist ein Leben lang halten, das sich Ausprobieren in der Gruppe – wie wirke ich auf andere? Das findet normalerweise auf dem Schulhof, in Gemeindehäusern, auf Sportplätzen, bei privaten Feten oder Besuchen statt. Das alles geht nur noch stark eingeschränkt oder gar nicht mehr – seit 15 Monaten. Die Jugendlichen werden in ihrer Entwicklung massiv behindert und eingeschränkt. Gerade jetzt eingesperrt zu sein, bedeutet große Frustration und Beengung. Die schulischen und beruflichen Handicaps kommen noch on top. Andere vulnerable Personengruppen wie Senioren und Pflegekräfte stehen gesellschaftlich viel mehr im Fokus. Die Jugendlichen werden abgekoppelt. Darum suchen sie sich ihren Raum – und erleben dort auch wieder Ablehnung.

Wie sollten Politik und Gesellschaft jetzt reagieren?

Bernd Wildermuth: Seien wir ehrlich: Kita und Schule sind deshalb so im Fokus, weil sie garantieren, dass wir Erwachsene unserer Arbeit nachgehen können und entlastet werden. Politik und Gesellschaft sollten jedoch Kinder, Jugendliche und junge Menschen nicht nur als Leistungsträger und als Problemfälle wahrnehmen, sondern in ihrer Entwicklung und als ganze Person. Auch bei der Covid-19-Impfung sollten sie priorisiert werden – gemeinsam mit den Senioren und Seniorinnen. In der Politik und in der Berichterstattung hat die Situation der Jugendlichen und jungen Erwachsen zuvor nicht wirklich interessiert. Erst nach der Krawallnacht begann man zu fragen. Eine bittere Erkenntnis ist leider, dass Jugendliche und ihre Situation nur dann richtig in den Fokus geraten, wenn sie Probleme machen. Zentrale Botschaft an die Jugendlichen muss aber sein: Ihr und Euer Leben ist uns nicht egal. Was mich beeindruckt hat: Ein, zwei Wochen nach den Ausschreitungen machten sich Stuttgarter Kommunalräte zum Eckensee auf und gingen ins Gespräch mit den jungen Menschen. Sie waren erstaunt, dass die Jugendlichen sie mit Handschlag begrüßten. Gesehen werden! Das ist ein großer Wunsch der Jugendlichen und es ist ein großes Manko. In der Situation war das „mit den Händen zu greifen.“ Leistungsträger? Problemfall?

Was können Landeskirchen und Gemeinden beitragen?

Bernd Wildermuth:Unsere zentrale Botschaft aus dem Evangelium heraus an die Jugendlichen und an die Gesellschaft ist: Jedes Kind, jeder Jugendliche und jeder junge Mensch ist wertvoll. Und das ist unabhängig davon, wie jemand in der Schule oder im Beruf ist; egal was für sportliche oder musikalische Talente jemand hat. Das leitet die evangelische Jugendarbeit im EJW gemeinsam mit der Landeskirche, aber auch die anderen Jugendverbände, von den Apis über den EC bis zum VCP. Deshalb versteht sich die evangelische Jugendarbeit zum einen als Anwalt von Kindern und Jugendlichen und zum anderen als Ort, wo Kinder und Jugendliche einfach „sein“ können und sich erproben.

Die Fragen stellte Pamela Barke



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