03.08.2021

Ein Jahr nach der Explosion von Beirut

Interview mit Dr. Uwe Gräbe von EMS

Als wäre die Corona-Pandemie nicht genug, gab es am 4. August vor einem Jahr eine Explosion im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut, bei der laut libanesischen Regierungsangaben mindestens 190 Menschen getötet und mehr als 6.500 verletzt wurden. An den katastrophalen Folgen leidet die Bevölkerung noch heute. Elk-wue.de hat mit Dr. Uwe Gräbe, Verbindungsreferent Nahost der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS), über die Lage im Libanon und die Auswirkungen auch auf die christlichen Gemeinden und die Schneller-Schule dort gesprochen.  

Am 4. August 2020 explodierten im Hafen von Beirut Lagergebäude. Die Katastrophe vertiefte die Krise weiter, in der der Libanon seit Jahren steckt.

Vor einem Jahr hat eine ungeheure Explosion Beirut erschüttert. Ein Jahr später: Wie geht es den Menschen in Beirut?

Dr. Uwe Gräbe: Man meint, mit einer solchen Katastrophe sei der Tiefpunkt einer jahrelangen Entwicklung erreicht – nur um dann später festzustellen: Es geht doch noch tiefer. All die Krisen, die den Libanon seit dem Herbst 2019 durchschütteln, sind ja weiterhin da: die politische Krise, die Wirtschaftskrise, die medizinische Krise, die Umweltkrise, die humanitäre Krise. Vier „designierte Ministerpräsidenten“ - Hariri, Diab, Adib, wieder Hariri und jetzt Mikati - haben seitdem erfolglos versucht, eine einigermaßen stabile Regierung zu bilden. Der greise Staatspräsident Aoun erweist sich als unbeweglich bis hin zum Altersstarrsinn, das Land ist quasi führungslos.

Dr. Uwe Gräbe (hier in Sidon / Libanon) kennt sich als Verbindungsreferent Nahost der EMS und als Geschäftsführer der Schneller-Schulen hervorragend im Libanon aus.

Und die Inflation galoppiert geradezu: Vor Oktober 2019 musste man für einen US-Dollar noch 1.500 Libanesische Pfund bezahlen. Zum Zeitpunkt der Explosion am 4. August 2020 waren es um die 8.000 Pfund, und heute sind es ca. 20.000 Pfund. Das heißt: Jedes Gehalt, jedes Sparguthaben, jede Versicherung, jeder Pensionsanspruch hat über 90 Prozent des Wertes verloren. Ich habe gute Freunde, die sich eigentlich auf den Ruhestand vorbereiteten, die jetzt aber darum bitten, auf unbestimmte Zeit weiter arbeiten zu dürfen – wenn es denn überhaupt bezahlte Arbeit gibt – weil sich ihre Renten in Luft aufgelöst haben.

Und auch die Versorgung mit Energie ist ein Problem. Der libanesische Staat hat keine Devisenreserven mehr, um dringend benötigten Treibstoff zu importieren. Das Verrückte ist ja, dass eine völlig verfehlte Politik in den vergangenen Jahren dazu geführt hat, dass in diesem sonnenverwöhnten Land der elektrische Strom fast ausschließlich aus importierten, fossilen Brennstoffen produziert wird. Jetzt gibt es maximal noch für zwei Stunden am Tag Strom – und auch die privaten Stromgeneratoren, die schon immer die staatlichen Defizite ausgeglichen haben, können nicht laufen, weil auf dem Markt kein Treibstoff mehr zu bekommen ist. Die Lebensmittel vergammeln in den Kühlschränken, dafür kommt (wenn überhaupt) maximal kaltes Wasser aus dem Wasserhahn. Ins fünfzehnte Stockwerk der Hochhäuser in Beirut müssen Sie die Treppe benutzen – und noch schlimmer: Viele Beatmungsgeräte, Dialysemaschinen und ähnliche Geräte in den Krankenhäusern laufen auch nicht. Etliche Medikamente sind ohnehin kaum noch zu erhalten – und wenn, dann zu Mondpreisen.

Wirkt sich diese Not auch auf das politische Engagement der Menschen aus?

Dr. Uwe Gräbe: Ende 2019 sind die Menschen noch auf die Straßen gegangen, um gegen ihre korrupte Führungsschicht zu protestieren. Heute hingegen werden alle Energien dafür gebraucht, zumindest das täglich notwendige Essen irgendwie herbeizuschaffen. Die meisten Menschen haben alle Hoffnung verloren, viele warten nur auf eine Gelegenheit zum Auswandern. Und das in einem Land, das einmal als „Schweiz des Nahen Ostens“ bezeichnet wurde. Noch vor zwei Jahren habe ich Beirut als Partymetropole erlebt - irgendwo wurde immer etwas gefeiert und es bogen sich die Tische. Das ist nun wie eine Erinnerung an eine ganz, ganz ferne Vergangenheit.

Welche Unterstützung brauchen die Menschen dort?

Dr. Uwe Gräbe: Zunächst muss man sich verdeutlichen, warum jegliche Unterstützung so schwer ist. Einerseits gibt es auf politischer Seite keine Ansprechpartner. Das Land ist voll mit „amtierenden“ oder „kommissarischen“ Funktionsträgern, die alle aus der alten, korrupten Elite stammen. Die hat sich vor dreißig Jahren aus den Warlords des Libanesischen Bürgerkriegs gebildet. Aber es gibt keine Regierung, die das Volk vertritt. Frankreich sieht sich als einstige Mandatsmacht in einer besonderen Rolle gegenüber dem Libanon und sagt seit Monaten immer wieder: „Bildet eine Regierung, und wir helfen euch.“ Man kann schon fast nicht mehr zählen, wie oft der französische Präsident und sein Außenminister zu Besuch in Beirut waren, um den Verantwortungsträgern dort ins Gewissen zu reden.

Auch die deutsche Bundesregierung steht bereit, um etwa beim Wiederaufbau des Hafens zu helfen. Die dort gelagerten Giftstoffe wurden bereits zum großen Teil mit deutscher Hilfe entsorgt. Doch auf libanesischer Seite bewegt sich nichts. Selbst die juristische Aufarbeitung der Hafenexplosion, die Suche nach den Schuldigen, nimmt sich aus wie eine Provinzposse.

Welche Rolle können die Religionsgemeinschaften spielen?

Dr. Uwe Gräbe: Das Problem ist, dass durch das libanesische System des „konfessionellen Proporzes“ die staatlichen Autoritäten und die Religionsgemeinschaften untrennbar miteinander verquickt sind. Jedes politische Amt „gehört“ qua Proporz einer bestimmten Religionsgemeinschaft, und in den Leitungsgremien von Hafenbehörde, Elektrizitätsgesellschaft usw. sitzen die Leute nicht, weil sie für ihr Amt besonders kompetent wären, sondern weil sie jeweils delegiert werden, um dort das Zahlenverhältnis von maronitischen Christen, Sunniten, Schiiten und Drusen zu gewährleisten.

Nach dem Bürgerkrieg war das hilfreich, um den Frieden zwischen den Gemeinschaften zu gewährleisten. Aber mittlerweile hat es zu einem Sumpf an Vetternwirtschaft geführt. Das ist ein Mechanismus, in den man natürlich von außen kein Geld hineingeben möchte.

Wie können wir aus Deutschland helfen?

Dr. Uwe Gräbe: Wer unterstützen will, muss an der Basis ansetzen. Und das haben zum Beispiel auch unsere Landeskirchen hier im Südwesten getan. Als durch die Explosion vor einem Jahr die evangelisch-reformierte und die anglikanische Kirche, das evangelische Altenheim und die kleine evangelisch-theologische Hochschule NEST (Near East School of Theology) schwere Schäden davongetragen haben, da waren so viele zur Stelle, um hier beim Wiederaufbau zu helfen. Auch die Württembergische Landeskirche hat über die EMS, deren Mitgliedskirche die Evangelische Kirche in Beirut ist, großzügig Geld gegeben. Und am Ende konnte mit diesen Mitteln über den unmittelbaren Wiederaufbau hinaus auch ganz viel humanitäre Hilfe geleistet werden: Lebensmittel- und Hygienepakete, Decken und Matratzen wurden da verteilt an die, die alles verloren hatten – ganz unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Einige Gehaltszahlungen an der NEST konnten übernommen werden.

Es gab auch viel ökumenische Zusammenarbeit, indem etwa die orthodoxe Jugend bei Aufräumarbeiten in der evangelischen Kirche geholfen hat, und die Evangelisch-Reformierten wiederum die Anglikaner und die Orthodoxen beim Wiederaufbau unterstützt haben. Zuletzt hat die Württembergische Landeskirche noch einmal sehr viel Geld für die Johann Ludwig Schneller-Schule in der libanesischen Bekaa-Hochebene zur Verfügung gestellt. Dort leben und lernen Jungen und Mädchen aus ganz unterschiedlichen Konfessionen und Religionen miteinander, von denen die meisten vor allem eine Gemeinsamkeit haben: Sie stammen aus ganz armen oder zerbrochenen Familien, die oft anfällig für radikale Parolen sind. Auch zahlreiche syrische Flüchtlingskinder gehören dazu.

Im Winter 2020/2021 konnte die Johann-Ludwig-Schneller-Schule aus Spendenmitteln kleine Tablet-Computer anschaffen, um den Unterricht unter Pandemie-Bedingungen zu verbessern.

Welche Folgen haben die wirtschaftlichen Bedingungen für die Arbeit der Schneller-Schule?

Dr. Uwe Gräbe: Die Johann Ludwig Schneller-Schule leidet unter der Pandemie und unter der Wirtschaftskrise wie alle anderen vergleichbaren Einrichtungen auch. Es gab über die vergangenen anderthalb Jahre ein Wechselspiel von Präsenz-, Online- und Hybridunterricht in Wechselschichten. Die Gruppen in Internat und Schule wurden jeweils verkleinert. Aus Spendenmitteln, die die EMS einwerben konnte, wurden kleine Tablet-Computer angeschafft, damit die Kinder aus ihren Internats-Wohngruppen oder auch aus ihren Familien heraus am Unterricht teilnehmen können.

Schwierig ist es, den Lehrerinnen und Erziehern menschenwürdige Gehälter zu zahlen. Bislang wurde die Hälfte der laufenden Kosten der Einrichtung im Libanon selbst generiert, die andere Hälfte haben wir aus Deutschland und aus der Schweiz beigetragen. Inzwischen ist der finanzielle Anteil aus dem Ausland prozentual viel größer, weil das libanesische Geld keinen Wert mehr hat. Da auch die Gehälter zum Leben nicht mehr reichten, hat der Direktor eine Zeit lang jeweils einen Bonus in Euro gezahlt. Weil dies jedoch auch zu neuen Ungerechtigkeiten geführt hat, hat er neuerdings die Gehälter in einheimischer Währung vervielfacht – alles auf der Basis freiwilliger Bonusleistungen, weil eine staatlich angeordnete Erhöhung der Gehälter immer noch aussteht.

Welche Hoffnung verbindet sich mit der Arbeit der Schneller-Schule?

Dr. Uwe Gräbe: Durch das gemeinsame Leben an der Schneller-Schule werden die Kinder hoffentlich befähigt, an einer Gesellschaft mitzubauen, in der die tiefen Gräben zwischen den gesellschaftlichen Gruppen überwunden werden. Übrigens haben sich vor einiger Zeit mehrere Rotary-Clubs in Deutschland und dem Libanon zusammengetan, um eine Fotovoltaik-Anlage auf dem Dach der Schule zu finanzieren. Im September oder Oktober wird dann hoffentlich der kostenlose und saubere Solarstrom fließen. Das sind wirklich nachhaltige Projekte an der Basis. Und da ist meine ganz große Bitte an unsere Kirche, an unsere Gemeinden und an eigentlich alle Christenmenschen, hier nicht locker zu lassen.

An der Schneller-Schule geschieht eine sehr, sehr segensreiche Friedensarbeit. Bitte vergessen Sie diesen Dienst nicht. Bitte beten Sie für unsere Geschwister an den Schneller-Schulen, und bitte spenden Sie auch, wo es möglich ist. Das Spendenkonto des Evangelischen Vereins für die Schneller Schulen finden Sie auf unserer Homepage.

In Beirut gibt es an der NEST ein Studienprogramm, an dem auch Pfarrerinnen und Pfarrer aus Württemberg teilnehmen – wird das stattfinden können?

Dr. Uwe Gräbe: Als Evangelische Mission in Solidarität (EMS) entsenden wir jedes Jahr eine Gruppe von Theologiestudierenden an die kleine evangelisch-theologische Hochschule „Near East School of Theology“ (NEST) in Beirut. Daneben entsendet die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) alle zwei Jahre eine Gruppe von Pfarrerinnen und Pfarrern in ein dreimonatiges Fortbildungsprogramm dort, an dem auch Pfarrerinnen und Pfarrer aus Württemberg teilnehmen können. An dieser Hochschule kann man zum Beispiel sehr viel über die Ostkirchen lernen, die im Libanon zahlreich vertreten sind, wie auch über die Versuche der einheimischen Christinnen und Christen, ihre Existenz in der Gegenwart der muslimischen Bevölkerungsgruppen zu leben.

Der Studienjahrgang 2019/2020 ist wegen der Pandemie größtenteils vorzeitig aus Beirut zurückgekehrt. Das Studienjahr 2020/2021 musste ganz abgesagt werden. Aber nun sollen Ende September wieder fünf junge Studierende sowie etliche Pfarrerinnen und Pfarrer zum Studium an der NEST ausreisen.

Das ist eine große Herausforderung für die Teilnehmenden, oder?

Dr. Uwe Gräbe: Manchmal frage ich mich: Sind wir total verrückt, das zu wagen? Wir haben einen kleinen Geschäftsführenden Ausschuss für dieses Studienprogramm, und da haben wir schon heftig miteinander diskutiert. Aber dann haben wir uns jeden einzelnen und jede einzelne dieser Ausreisenden nochmal vor Augen geführt und uns gefragt: Sind sie stabil genug, um das auszuhalten, was da möglicherweise auf sie zukommt? Dass man in der schwülen Sommerhitze womöglich keinen Ventilator und keine Klimaanlage anschalten kann, ebenso wenig wie die Heizung, wenn es im Winter kalt wird. Dass es mit den frischen Lebensmitteln schwierig werden könnte, dass man an langen Winterabenden vielleicht bei Kerzenschein studieren muss, und dass dann womöglich auch noch eine der beliebten Exkursionen wegen Spritmangel abgesagt wird. Und wenn es ganz schlimm kommt, könnte es ja auch passieren, dass man zu einem neuen Corona-Lockdown für einige Zeit in dem achtstöckigen, grauen Betongebäude in Beirut festsitzt.

Aber gerade in dieser Krise bedeutet es für unsere einheimischen Geschwister ja unendlich viel, dass andere sie nicht vergessen, sondern sogar ihre Lebensrealität teilen. Das ist schon eine enorme Lernerfahrung, die unsere Studierenden dort machen können. Und wir haben uns gesagt: Ja, mit diesen jungen Leuten können wir es wagen. Natürlich ist jede und jeder frei, seine/ihre Teilnahme noch abzusagen. Dafür hätten wir alles nur erdenkliche Verständnis. Und doch haben wir die Hoffnung, dass dieses Studienjahr stattfindet – mit ganz wenigen Teilnehmenden vielleicht – und das daraus Gutes wächst. Übrigens kann man sich schon jetzt für das Studienjahr 2022/2023 bewerben. Bewerbungsschluss ist der 10. Dezember 2021.

Welche – auch politische – Perspektive sehen Sie für das Land?

Dr. Uwe Gräbe: Mit der politischen Elite, die das Land seit dem Bürgerkrieg regiert, geht es nicht weiter. Und man kann sich nur die Haare raufen, dass die Angehörigen dieser alten Elite sich immer wieder gegenseitig zur Regierungsbildung vorschlagen. Eine Ausnahme bildet vielleicht Mustapha Adib. Er ist libanesischer Botschafter in Deutschland und hat sich im September 2020 einige Wochen erfolglos an einer Regierungsbildung versucht. Er ist ein relativ junger Mann, den ich persönlich kenne und für eine ehrliche Haut halte. Aber man hat ihn im Libanon regelrecht ins Leere laufen lassen. Jetzt versucht seit einigen Tagen Najib Mikati die Regierung zu bilden, der in der Vergangenheit bereits zweimal libanesischer Ministerpräsident war und der ein persönlicher Vertrauter des syrischen Diktators Assad ist. Mikati stammt aus Tripoli, der ärmsten Stadt des Libanon, und hat es mit seinem Mobilfunk-Unternehmen zum Multimilliardär gebracht.

Bei alledem ist deutlich, dass die alte Elite im Libanon ausgespielt hat. Sie hat keine Ideen mehr, und irgendwann werden ihr auch die Personen ausgehen. Hoffentlich wird das bald der Fall sein! Ich wünsche mir, dass dann eine junge Frau oder ein junger Mann mit der Regierungsbildung beauftragt wird, der oder die einerseits gut ausgebildet ist, andererseits aber auch selbst die Armut des größten Teils der Bevölkerung erfahren hat. Nach der jetzigen Regelung muss der Ministerpräsident immer ein sunnitischer Muslim sein, aber das dürfte dann keine Rolle mehr spielen. Ich bin mir sicher, dass diese Person ganz viel internationale Unterstützung erfahren wird. Der Libanon ist ein sehr kleines Land; daher müsste es durchaus möglich sein, ihn mit internationaler Hilfe wieder auf die Beine zu bringen.

Vielen Dank für das Gespräch!

So können Sie helfen

Evangelischer Verein für Schneller-Schulen

Unter https://ems-online.org/unterstuetzen/libanon-jlss können Sie digital für die Johann-Ludwig-Schneller-Schule spenden. Dort finden Sie auch die Daten des Spendenkontos.

Weitere Projekte in Beirut:

Unter https://ems-online.org/unterstuetzen können Sie weitere Projekte im Libanon über das Spendenkonto der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS) unterstützen. Geben Sie dafür einfach den jeweils konkreten Verwendungszweck an:

  • Evangelische Kirche Beirut
  • NEST Hochschule Beirut
  • Altenheim Beirut

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