„Wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Als am 19. Oktober 1945 führende Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland in Stuttgart mit Vertretern des vorläufigen Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) unter Leitung von Generalsekretär Visser't Hooft zusammentrafen, übergaben sie der Delegation aus Genf ein kurzes Dokument, in dem sich auch jener Satz findet, der wohl wie kein zweiter die Nachkriegsgeschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland bestimmen sollte. Das Dokument wurde später als Stuttgarter Schuldbekenntnis bekannt.
Im historischen Rückblick betrachtet wurden mit diesem Kirchenwort Koordinaten für die Nachkriegszeit bestimmt und das Verhältnis zu Staat und Gemeinwesen neu justiert. Die Evangelische Kirche in Deutschland und mit ihr die einzelnen, bis heute eigenständigen Landeskirchen, haben sich 1945 aufgemacht und stehen heute für eine ökumenische und diakonische Theologie. Mit dem Schuldbekenntnis haben sie sich damals den Weg aus Isolation und politischen Verstrickungen gebahnt. 75 Jahre später steht dieser Kurs für einige Mitglieder der Evangelischen Kirche offensichtlich in Frage. Sie hinterfragen die Haltung der Kirche gegenüber der Rettung und Aufnahme von Geflüchteten und werfen Kirchenleitungen vor, sie agierten gegenüber dem Staat in der Corona-Pandemie zu defensiv. Ist die Evangelische Kirche zu politisch - oder an den entscheidenden Konflikten nicht politisch genug? Das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 ist bei aller historischen Distanz bis heute ein zentraler Text, aus dem sich Antworten auf diese Fragen gewinnen lassen.
Dass die neugegründete EKD sich im Oktober 1945 ausgerechnet im schwer zerstörten Stuttgart traf, war kein Zufall. Der Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Theophil Wurm, wollte als Ratsvorsitzender der neu gegründeten EKD die innerevangelischen Gräben zwischen Lutheranern und Reformierten überwinden. Als die ökumenische Delegation im württembergischen Stuttgart eintraf, lagen bereits längere Verhandlungen hinter den EKD-Vertretern. Die Evangelische Kirche in Deutschland war isoliert und viele Vertreter europäischer Kirchen sprachen sich vehement gegen die Aufnahme deutscher Kirchen aus. Im Oktober 1945 stand daher die klare Erwartung im Raum, dass vor einer Aufnahme in den ÖRK ein Schuldeingeständnis der Evangelischen Kirche stehen müsse.
Dieser Hintergrund erklärt die spürbare Ambivalenz des Textes. Denn die meisten leitenden Geistlichen, die hier ihre Schuld stellvertretend für ihre Landeskirche bekannten, waren weder Nazis noch Parteigänger der Deutschen Christen gewesen. So sehr sie ihre Verantwortung auch annahmen, so sehr wollten sie doch dem Eindruck entgegentreten, die Kirchen seien seit 1933 vollständig dem Nationalsozialismus erlegen. Allerdings weist der Text einen blinden Fleck auf, der aus heutiger Sicht ein schweres Versäumnis ist: Es findet sich damals kein Wort zum millionenfachen Mord an Juden, an anderen Minderheiten und Verfolgten des Naziregimes.
Die Bekennende Kirche, in Opposition zu Hitler und den Deutschen Christen, stand seit 1934 für die Barmer Theologische Erklärung, die heute in den unierten Landeskirchen den Rang einer Bekenntnisschrift hat. So überrascht es nicht, dass dem Schuldbekenntnis eine Klarstellung vorangeht: „Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat. aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“
Das Schuldeingeständnis der Kirchen hatte 1945 darüber hinaus auch eine eminent politische Dimension. Das britische Außenministerium hatte bereits im Sommer 1945 die katholischen Bistümer zu einer Erklärung gedrängt. Der Fuldaer Hirtenbrief vom 23. August 1945 enthielt zwar eine solche Erklärung, blieb aber durch seine zurückhaltenden Formulierungen weit hinter den alliierten Erwartungen zurück. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis ist daher bis heute ein Lehrstück für die Rolle des Protestantismus in der deutschen Gesellschaft. Die Evangelischen Landeskirchen waren traditionell eng mit dem Staat verbunden gewesen. Die Beziehung von Thron und Altar, Ausfluss des landesherrlichen Kirchenregiments, hatte die evangelische Kirche noch im Nationalsozialismus anfällig für falsche Loyalitäten gemacht. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis steht daher wie kein zweites Dokument für ein Umdenken, einen echten Neuanfang. Es steht für eine Vision von Ökumene und ein friedliches Europa. Empathisch endet das Schuldbekenntnis mit den Worten: „Wir hoffen zu Gott, daß durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte Menschheit Genesung finden kann.“
Gleichzeitig zeigte sich in der öffentlichen Kommunikation dieses Schuldbekenntnisses, wie ambivalent die Kirchen in Wirklichkeit in dieser Sache noch waren. Mehrere leitende Geistliche taten sich schwer, die Erklärung namentlich zu unterschreiben, viele drängten darauf, den Text an die ökumenische Delegation zu übergeben, aber nicht in Deutschland zu veröffentlichen. Paradoxerweise spricht das im Rückblick gerade für die Bedeutung, die dem Dokument zugemessen wurde. Überhaupt liest man das Stuttgarter Schuldbekenntnis mit den Augen von heute, so kann es den Kirchen wie einer zunehmend säkularen Öffentlichkeit mindestens drei Impulse vermitteln:
Verortet man den Text allein in der politischen Sphäre und sieht in ihm eine „Eintrittskarte“ in die demokratische Welt und auch damit erwartete materielle Hilfen, so wird man dem besonderen Anliegen des Bekennens nicht gerecht. Denn erster Adressat ist gar nicht die Welt, sondern Gott. Ihm wollten die Bischöfe ihre Schuld bekennen.
Die Öffentlichkeit ist also zuerst Zeugin dieses Bekennens und erst dann Adressatin. Denkt man an die landesweiten Bußtage (der letzte, der Buß- und Bettag, wurde 1994 mit Ausnahme von Sachsen in den übrigen Bundesländern abgeschafft, um die Pflegeversicherung zu finanzieren), so hat das öffentliche, kollektive Schuldbekennen in Deutschland eine lange Tradition. Dies haben Kirchenvertreterinnen und Kirchenvertreter aufgegriffen, als sie im Zuge der Aufdeckung der Missbrauchsfälle stellvertretend die Schuld der Kirchen bekannt und die Opfer um Entschuldigung gebeten haben.
Die öffentlich bekannte, kollektive Schuld ist etwas völlig anderes als ein politisches Statement. Zugleich aber sind solche Schuldbekenntnisse zutiefst politisch. Einerseits erheben sie den Anspruch, in einer pluralistischen Gesellschaft stellvertretend für andere Menschen individuelles Fehlverhalten auszusprechen. Andererseits wird deutlich, dass die, für die sie sprechen, nicht nur Kirchenmitglieder, sondern auch Bürgerinnen und Bürger dieses States sind.
Für die Kommunikation der Kirche heißt das heute mehr denn je, dass sie in ihren politischen Äußerungen genau dieses beides zu bedenken hat: Weil ihre Mitglieder Teil des Gemeinwesens sind, darf sie in den großen Debatten nicht stummbleiben. Zugleich aber soll ihr Beitrag als eigentümlich, dem Auftrag der Kirche angemessen, verstanden werden.
Ein Schuldbekenntnis, das sich zuerst an Gott und erst dann an die Menschen richtet, kann so ein Beitrag sein.
Die öffentliche Kommunikation der Kirche erwies sich auch zu Beginn der Corona-Pandemie als Streitfall divergierender Erwartungen. Hier ging es nicht um Schuldfragen, sondern darum, ob die Kirchen laut und vernehmbar genug die Interessen der vulnerablen Gruppen vertraten. Und auch hier zeigte sich, wie wichtig die Passung zwischen Anliegen, Anlass und Redegattung für religiöse Kommunikation in einer säkularen Gesellschaft ist. Dort, wo die Kirchen Verständnis für staatliche Eingriffe in Grundrechte aufbrachten, um die Schwachen zu schützen, warf man ihnen Leisetreterei vor. Wo sie Debatten über Triage oder Systemrelevanz führen wollten, erklärte man kurzerhand die kirchlichen Positionen für nicht relevant.
Aus diesen Erfahrungen kann der Protestantismus lernen: Öffentliche Debattenbeiträge legitimieren sich nicht automatisch, weil sie von kirchlichen Amtsträgern kommen. Die Legitimation resultiert zum einen aus der großen Zahl der Menschen, für die Kirche spricht. Positionen werden dabei keinesfalls beliebig. Zum anderen gewinnt die Kraft der Argumente, wenn Glaubensüberzeugungen so in eine säkulare Öffentlichkeit hinein übersetzt werden, dass der Eigensinn ihrer „religiösen Grammatik“ produktiv für die Debatte werden kann. Form und Inhalt sollten dabei einander entsprechen. Das haben schon die alttestamentlichen Propheten mit ihren öffentlichkeitswirksamen Zeichenhandlungen gewusst.
Die öffentliche Kommunikation über den Einsatz der Sea-Watch 4 belegt dabei eindrucksvoll das Dilemma, in dem die Evangelische Kirche gegenwärtig steht: Das Motto „Wir schicken ein Schiff“ spricht die Sprache der Öffentlichen Theologie. Die glaubwürdige Rede von der Barmherzigkeit wird im Schiff, das Flüchtlinge aufnimmt, manifest. Das zeichenhafte Handeln der Kirche wird hier tatsächlich Politik, weil es staatliche Versäumnisse anschaulich macht. Das stärkt die zivilgesellschaftliche Rolle der Kirche, birgt aber die Gefahr, das Eigentümliche religiöser Sprachkraft zu verlieren.
Das Stuttgarter Schuldbekenntnis spricht mehrfach von einem emphatischen Wir. Ganz offensichtlich spricht es für mehr Personen, als diesen Text unterschrieben haben. Dennoch bleibt die Frage, ob damit die ganze Kirche gemeint sei, letztlich unbeantwortet. Gänzlich fraglich ist, ob dieses Wir gar alle Deutschen einschließen sollte. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis öffnet einen Bogen, der mit der berühmten Rede Richard von Weizäckers zum vierzigjährigen Kriegsende 1985 vor dem Deutschen Bundestag seinen Höhepunkt erreichte. Verantwortung ist ein kollektiver Auftrag, Schuld laden nicht Länder auf sich, sondern Menschen. Schuldbekenntnisse können dabei einen Prozess des Vergebens und des Neuanfangs eröffnen, ohne dabei einen Endpunkt zu setzen. Die unseligen Schlussstrichdebatten der letzten Jahrzehnte verkennen diesen rituellen Charakter des Schuldbekenntnisses zutiefst.
Die Kirchen mussten, besonders nach der Wiedervereinigung Deutschlands, feststellen, dass sie längst nicht mehr selbstverständlich für ein solches kollektives Wir sprechen können. Bis heute ist jedoch innerhalb der Kirchen das Bild einer Volkskirche mit einem flächendeckenden Netz von Angeboten und verlässlichen Hilfen prägend. Im Sinne des Stuttgarter Schuldbekenntnisses lässt sich dies sagen: Künftig werden die Kirchen dann besonderes Gehör finden, wenn sie mehr kritisches Gegenüber einer Mehrheitsgesellschaft sind als Sprachrohr für das Volk, dessen Kirche sie – zumindest was die Zahl ihrer Mitglieder angeht - bestenfalls zur Hälfte sind.
Noch immer irritiert eine nicht geringe Zahl an Kirchenmitgliedern, wenn führende Kirchenvertreterinnen und -Vertreter ganz im Sinn des Stuttgarter Schuldbekenntnisses die Vision einer friedlichen und gerechten Welt konsequent grenzüberschreitend denken. Es mutet im Licht der Stuttgarter Schulderklärung allerdings regelrecht anachronistisch an, die aktuellen Herausforderungen, vor denen Europa steht, überhaupt anders als grenzüberschreitend zu denken.
Als 2015 die sogenannte Flüchtlingskrise begann, deren Ursache in Wahrheit Versäumnisse einer inhumanen Flüchtlingspolitik war, gab das politische Europa weitgehend ein Bild des Jammers ab. Es waren die Kirchen, die in großer Einmütigkeit Flüchtlingen in Europa halfen und diese Hilfe in öffentlichen Debatten als zutiefst christlich in Erinnerung riefen. Die Kirchen tun gut daran, auf dem Fundament eigener Schulderkenntnis wie vor 75 Jahren an die Wurzeln Europas zu erinnern, die vom christlichen Menschenbild geprägt sind. Wer dieses Bild vom Menschen und seiner unverlierbaren Würde verinnerlicht, kann auf Lesbos, auf Lampedusa und an den Außengrenzen der EU nicht wegschauen. Sonst wird er schuldig vor Gott und den Menschen.
Eine Kurzfassung dieses Beitrags ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Oktober unter dem Titel „Das Erbe des Stuttgarter Schuldbekenntnisses“ erschienen.