Beim 6. Forum Digitalisierung haben sich fast 300 Teilnehmer in einer eintägigen Online-Veranstaltung mit der Digitalisierung in der Landeskirche beschäftigt – sowohl im Hinblick auf die Corona-Krise als auch darüber hinaus im Blick auf die Zukunfts-Potenziale der Digitalisierung für Gemeindeleben, Verkündigung, Spiritualität und kirchliche Verwaltung. Die Veranstaltung fand als Video-Konferenz statt.
Landesbischof Dr. h. c. Frank Otfried July stellte in seinem geistlichen Impuls die Digitalisierung in den Horizont der Segenszusage Gottes, überall da zu sein, wo Menschen sind. July bezog sich auf Psalm 139, Vers 9 und 10: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.“ Die digitalen Medien und Techniken eröffneten eine neue Weite, neue unbekannte Räume, neue Heimaten und Netzwerke, aber auch neue Risiken und Gefahren. Auch für diese Räume gelte Gottes Segenszusage aus Psalm 139: „Wir müssen nicht ungehalten fliegen, Gott ist immer am weitesten Horizont.“ Und weil Gott da sei, wo die Menschen sind, wolle auch die Kirche da sein und die neuen Freiheiten in Gottes Hände legen.
„Unglaubliche Beschleunigung“
Der Direktor des Evangelischen Oberkirchenrats, Stefan Werner, ging dann ins Detail und schlug einen Bogen von den Erfahrungen der Corona-Krise in die Zukunft. Der erste Corona-Lockdown im Frühjahr hat laut Werner auch in der Kirche zu einer „unglaublichen Beschleunigung“ der Digitalisierung geführt. Es habe sich gezeigt, dass digitale Verkündigungsformate Menschen erreichen könnten, die sonst keinen analogen Gottesdienst besucht hätten: „Menschen zuhause zu erreichen, hat vielerorts erstaunlich gut funktioniert.“
Dabei habe sich gezeigt, dass es besonders wichtig sei, Kranke und Sterbende seelsorgerlich zu begleiten, Gemeinschaft und Musik im Gottesdienst zu haben, kirchliche Bildungsangebote und das diakonische Wirken der Kirche aufrechtzuerhalten, sagte Werner. Vor diesem Hintergrund müsse die Kirche auch analysieren, wie entgegen der Tatsachen bei vielen Menschen der Eindruck habe entstehen können, dass die Kirche sich weggeduckt habe.
„Die Stunde des Experimentierens"
Die Krise birgt laut Werner auch eine große Chance: „Jetzt ist die Stunde des Experimentierens, der Kreativität … Wir können so viel ausprobieren, was wir sonst nicht im Ansatz gewagt hätten“. Jetzt gelte es, für die Zukunft zu lernen, sowohl im Hinblick auf neue Formen der Gemeinschaft, der Verkündigung und der Bindung als auch im Wissen darum, dass die verfügbaren Mittel in Zukunft geringer würden. „Eine offene Kirche bedeutet mehr als offene Gemeindehäuser“, erklärte Werner beispielhaft. Gemeindehäuser seien wichtig für eine gute Gemeindearbeit, aber das Wohl der Kirche hänge nicht von Immobilien ab. Diese Erfahrung, mit weniger auszukommen, könne Mut für notwendige künftige Sparmaßnahmen machen. Die Krise ist für Werner so auch eine gute Übung, Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden.
Werner, der die Projektgruppe Digitalisierung in der Landeskirche leitet, warnte vor der Vorstellung, die kirchliche Arbeit werde nach Ende der Pandemie zu den alten Zuständen zurückkehren. Das werde weder in der Gesellschaft als ganzer noch in der Kirche geschehen. Beispielhaft nannte Werner die enormen Vorteile, die digitale Besprechungen hätten. Erst im Vergleich werde nun klar, welchen „enormen zeitlichen Tribut“ Präsenzsitzungen kosteten und wie viel Video-Konferenzen zu einer besseren Klimabilanz und niedrigeren Reisekosten beitragen könnten.
Mit Blick auf die kommenden Monate und auf Weihnachten unter Corona-Bedingungen ermutigte Werner, sich nicht so sehr auf die Einschränkungen zu konzentrieren sondern auf das, was trotzdem möglich sei.
Stefan Werners Vortrag in voller Länge
Die Chance, auszumisten
Auch Uwe Habenicht, Pfarrer der hannoverschen Landeskirche und zurzeit in St. Gallen im Dienst, sieht in der Corona-Krise für die Kirche „die Chance, auszumisten.“ Die Krise werde „Formen wegspülen, die nicht mehr dran sind“, sagte Habenicht in seinem Vortrag. Die Entwicklung digitaler Angebote sei wichtig, weil die Kirche damit Menschen erreichen könne, denen es immer schwerer falle, ihre Lebensrhythmen mit denen anderer Menschen und Institutionen zu synchronisieren. Digitale Angebote lösten die Festlegung auf fixe Termine in Kirche und Gemeindehaus und erlaubten so viel mehr Menschen den Zugang.
Es ist nach Habenichts Erfahrung ein großes Interesse an religiösen Themen in der Gesellschaft vorhanden, aber dem müssen die Kirche unter den Bedingungen des modernen Lebens entgegenkommen, das immer weniger von synchronen Rhythmen geprägt sei. „Oft fassen wir Gemeinde sehr eng, nur als die Gottesdienstbesucher. Wir müssen das weitherziger denken, hin zu den vielen am Rand.“ Habenicht verglich das mit dem Sport: „Nur ein Bruchteil der Sportinteressierten ist live dabei, wenn der Sport ausgeübt wird.“
Menschen Freiräume bieten
Es gehe aber nicht nur darum, Angebote ins Netz zu stellen, die autonom zu beliebigen Zeiten abgerufen werden können. Ebenso wichtig sei es, in digitalen Formaten Freiräume zu bieten, in die sich die Menschen mit ihrer Individualität selbst einbringen können: „Wir engen Menschen viel zu sehr ein. Wir müssen Raum geben für die Individualität des Glaubens“.
Habenicht trat ausdrücklich der Furcht entgegen, die Digitalisierung werde die Teilnahme am kirchlichen Leben vor Ort beschädigen. Im Gegenteil sind seiner Erfahrung nach digitale Angebote gute Brücken in die analoge, physische Gemeinschaft vor Ort hinein. Dazu hält er es aber für wesentlich, dass die digitalen Angebote nicht anonym vorgefertigt sind, sondern authentisch das Leben vor Ort spiegeln: „Das Lokale, das Echte ist interessant“.
Uwe Habenichts Vortrag in voller Länge
Auch digital vom echten Leben erzählen
Daran schloss Petra Nann mit ihrem Vortrag an. Nann betreibt mit #imländle ein Online-Magazin über ihre schwäbische Heimat. Sie betonte, in digitalen und vor allem in den sozialen Medien gehe es vor Allem um Beziehungsaufbau, um einen echten Dialog zwischen Institutionen und Menschen. Dieser könne aber nur funktionieren, wenn nicht die Institution im Mittelpunkt stehe, sondern der Mensch. Nach ihrer Erfahrung muss man digital vom echten Leben vor Ort erzählen, authentisch sein und sich aufrichtig und wertschätzend für die Menschen interessieren.
Petra Nanns Vortrag in voller Länge
Dilemma zwischen Seelsorge und Gesundheitsschutz
In einer abschließenden Podiumsdiskussion erklärte die Pforzheimer Theologin Heike Springhart, die Kirchen hätten in der Hochphase der Krise im Frühjahr wesentlich mehr Seelsorge im Verborgenen geleistet als öffentlich bekannt geworden sei, manchmal auch in Grauzonen: „Es ist viel passiert, aber es bleibt immer etwas offen“. Das Dilemma zwischen Gesundheitsschutz und Seelsorge bleibe bestehen und sei schwer zu lösen. Zudem sei die Wahrnehmung der Kirche in der Gesellschaft extrem davon abhängig gewesen, wie die einzelnen Gemeinden vor Ort jeweils agiert hätten.
Digitalangebot mit Ausbaupotenzial
Dem stimmte die Frankfurter Journalistin Lena Ohm von evangelisch.de zu: „Jeder hat seine Gemeinde absolut gesetzt.“ Sie benannte aber auch einen positiven Effekt: „Plötzlich ist in vielen Gemeinden das Ehrenamt viel sichtbarer geworden.“
Mit Blick auf die digitalen Angebote der Kirchen und Gemeinden sieht Ohm noch viel Ausbaupotenzial. Viele Angebote seien noch sehr aus der Logik der Institutionen heraus gestaltet. Das sei oft nicht nutzerfreundlich.
Gemeinden sollten stärker kooperieren
Einig waren sich Ohm und Springhart darin, dass in der Digitalisierung der Gemeinden oft sehr viel von den individuellen Kompetenzen der Pfarrpersonen ab. Vieles könnten Gemeinden auch gar nicht allein leisten, sondern sie seien in vielem auf die Ressourcen der Landeskirchen angewiesen. Diese aber dürften wiederum nicht in zentralistische Überregulierung verfallen. Ohm regt an, Gemeinden sollten stärker kooperieren. Nicht jeder müsse alles können und alles anbieten.
Teilforen zur kirchlichen Praxis
Am Nachmittag befassten sich die knapp 300 Teilnehmer in acht interaktiven Teilforen mit praktischen Fragen rund um die Digitalisierung. Es ging dabei um die Themen Gottesdienst, Gremienarbeit, Schulseelsorge, Gebet und Glauben, Jugendarbeit, Kinderkirche, Seelsorge und neue Aufbrüche.
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