Am 18. und 19. Oktober 1945 traf sich der Rat der neu gegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in der Stuttgarter Markus-Kirche zu seiner ersten Sitzung und übergab Vertretern des internationalen Ökumenischen Rats der Kirchen einen Text, der seither als „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ bekannt ist. Auf dieser Basis konnten die deutschen evangelischen Kirchen in die weltweite Gemeinschaft der Kirchen zurückkehren. In einem Gedenkgottesdienst machten Landesbischof July und der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm nun am 18. Oktober die unverminderte Aktualität des Textes deutlich.
Der EKD-Ratsvorsitzende Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm und Landesbischof Dr. h. c. Frank-Otfried July blickten dabei auf die wegweisende Selbstanklage zurück, die nach Ende der Nazi-Gräuel und kirchlicher Versäumnisse wieder erste Türen in die Weltgemeinschaft der Kirchen öffnete:
In seiner Predigt machte Heinrich Bedford-Strohm deutlich: „Es ist mehr als ein liturgisches ‚mea culpa‘, es ist Ausdruck der existenziellen Dunkelheit, die die Verfasser des Stuttgarter Schuldbekenntnisses angesichts der Abgründe der Jahre des Dritten Reiches stellvertretend für viele vor nun 75 Jahren zum Ausdruck gebracht haben. Bekennen, Beten, Glauben und Lieben – darin, so erklärten sie, haben wir versagt. Wir haben in unserer gesamten christlichen Existenz gefehlt, umfassend, und nun steht alles auf dem Spiel.“ Eine Erinnerung an das Stuttgarter Schuldbekenntnis könne es allerdings nicht geben, ohne seine Defizite zu benennen, allen voran das Fehlen einer expliziten Benennung der Schuld an den Juden.
Eindrucksvoll schilderte der EKD-Ratsvorsitzende seine Empfindungen beim Besuch in Auschwitz/Birkenau: „Der Ort überträgt das Unfassbare, was dort geschehen ist – die Tränen, das Flehen, das Rufen, die Verzweiflung, das Blut, das zum Himmel schreit – bis ins Heute. Und zugleich zeugt der ganze Ort von der Unmenschlichkeit der Täter und Täterinnen.“
Dort sei spürbar geworden, so Bedford-Strohm: „75 Jahre sind angesichts dieser Vergangenheit, dieser Taten gar nichts, ein Windhauch nur.“ Er betonte die große Bedeutung des Erinnerns und Gedenkens: Die Frage, ob es noch immer an der Zeit sei, dieses Gedenken aufrecht zu erhalten, stelle sich nicht. Die Erinnerung an die Schuld, die Einsicht in die große Verantwortung, gehöre seit 1945 in die DNA der Evangelischen Kirche.
Doch Gott habe die Welt und die Menschheit nicht fallen lassen, sagte Bedford-Strohm. „Aus seiner Versöhnung leben wir. 75 Jahre nach der Stuttgarter Schulderklärung ist die Schuld nicht vergessen. Doch es ist etwas Neues geworden. Durch Gottes Gnade. Und durch menschliche Versöhnungsbereitschaft.“
Bedford-Strohm betonte die Rolle der Sprache für das menschliche Miteinander und zog eine Linie von den Gräueln der NS-Zeit über die Mahnung des Predigt-Textes aus dem vierten Kapitel des Epheserbriefs bis in die Gegenwart: „Es fängt mit Worten an. Mit der Art, wie wir miteinander, übereinander, gegeneinander reden! Deswegen ist es so wichtig, sich heute mit Entschiedenheit denjenigen entgegenzustellen, die Worte wieder salonfähig zu machen versuchen, die vor 75 Jahren in millionenfachen Mord gemündet haben.“
Er hob die Strahlkraft der Kirchen in der Gesellschaft hervor und zitierte dazu aus dem Predigttext: „Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“ So miteinander umzugehen sei nicht nur etwas Persönliches für unsere Privatheit. „Es ist in hohem Maße auch etwas Politisches. Wann könnte das deutlicher sein als in Zeiten unwürdiger TV-Duelle, in denen die Beleidigung und Herabsetzung zur bewussten Strategie wird? In Zeiten von Kommunikation in den sozialen Medien, in denen man sich an das Ausschütten von Kübeln von Hass fast schon zu gewöhnen droht.“
Landesbischof Dr. h. c. Frank Otfried July hob in seinem Eingangswort die Bedeutung des 1945 recht umstrittenen Dokumentes hervor und räumte zugleich ein, dass es blinde Flecken habe: „Kein Wort zur Verfolgung und Vernichtung des Judentums in Europa, kein Wort zur Verfolgung der Sinti und Roma, kein Wort zu Kriegsgräuel, kein Wort zur Verfolgung anderer Minderheiten.“ Eine große Verbreitung der Stuttgarter Erklärung sei zunächst wohl gar nicht vorgesehen gewesen, und es habe noch Jahrzehnte gebraucht, bis das ganze Unrecht wirklich präsent war.
Aber so wahr dies alles sei, sagte der Landesbischof weiter, so wahr sei es auch, „dass die württembergische Landeskirche - wie auch die EKD - die Stuttgarter Erklärung als Erbe und Auftrag sieht, eine zutiefst der Ökumene verpflichtete Kirche zu sein und immer neu zu werden“. Der Auftrag bleibe, „für die Würde eines jeden Menschen einzutreten, aus dem Glauben an Gottes Schöpfung, Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung zu bekämpfen und für Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden einzutreten“ sowie „eigene Schuld und Versagen zu benennen, um uns durch Gottes Geist erneuern zu lassen.“
Der Interims-Generalsekretär des Ökumenischen Rats der Kirchen, Prof. Dr. Fr. Ioan Sauca aus Genf, der aufgrund der Corona-bedingten Einschränkungen nicht persönlich anwesend sein konnte, betonte in einem Grußwort die historische Bedeutung des 75 Jahre alten Textes: „Was damals hier in Stuttgart geschah, hat mit dazu beigetragen, dass heute zwischen Karlsruhe und Straßburg eine Brücke des Friedens Deutschland und Frankreich über den Rhein hinweg verbindet. Wir sind dankbar, dass in der Mitte Europas Frieden herrscht.“
Sauca wies darauf hin, dass der Ökumenische Rat der Kirchen schon seit 1939 vorausschauend an Plänen für die Zeit nach dem Ende des Krieges gearbeitet habe. Sie hätten sich schon früh etwa mit Dietrich Bonhoeffer, Adam von Trott und anderen gemeinsame Gedanken über eine neue Friedensordnung für Europa gemacht: „Im Dezember 1942 wandte sich auch der deutsche Theologe Hans Asmussen mit einem Brief an Visser’t Hooft, mit dem nach dem Kirchenhistoriker Armin Boyens die Diskussion um ein Schuldbekenntnis der Bekennenden Kirche begann. Das Treffen im Oktober 1945 hier in Stuttgart war tatsächlich sehr gut vorbereitet.“
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Sauca export 2 from Sean Hawkey on Vimeo.
Die Stuttgarter Schulderklärung ist für die Gemeinde der Markus-Kirche kein Ereignis ferner Vergangenheit sondern stets gegenwärtig. Der geschäftsführende Pfarrer Dr. Thilo Knapp erzählt, es gebe zum Beispiel immer noch Gemeindeglieder, die von Rudolf Daur konfirmiert worden seien. Daur hatte die Gemeinde durch die Zeit des Dritten Reichs bis in die 60er Jahre hinein geführt und stets auf Abstand zum Nationalsozialismus geachtet.
Im Kirchenschiff ist der Text auf einer Bronzetafel präsent. Die Schulderklärung werde in den vielen Kirchenführungen angesprochen, die in der vom Zweiten Weltkrieg unberührten Jugendstilkirche durchgeführt würden. Und auch im Konfirmandenunterricht werde das Schuldbekenntnis immer wieder thematisiert, erzählt Knapp.
Die von Otto Dibelius und Hans Asmussen verfasste Stuttgarter Erklärung vom 18./19. Oktober 1945 war zunächst vor allem als ein geistlicher Neuanfang gedacht. Doch mit ihrem Eingeständnis einer „Solidarität der Schuld“ und der Einsicht: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker gebracht worden“ wurde sie zur Basis für eine ökumenische Wiederannäherung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Erklärung gilt heute als Grundlage für einen Neuanfang der deutschen evangelischen Kirche in der internationalen Gemeinschaft sowie für eine Verantwortungsübernahme der Kirche in der Gesellschaft.
Der folgende Video-Mitschnitt von kirchenfernsehen.de zeigt eine auf 30 Minuten gekürzte Fassung des Gedenkgottesdienstes in der Stuttgarter Markus-Kirche:
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