Es ist nicht nur das Corona-Virus, das sich in den letzten Wochen mit rasanter Geschwindigkeit ausgebreitet hat. Mit der Angst und dem Unmut, die damit einhergehen, finden auch alte Verschwörungsmythen in der Bevölkerung verstärkt Gehör. Dr. Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg, und Professorin Barbara Traub, Vorstandsprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW), warnen vor den Folgen dieser Entwicklung.
In Krisenzeiten ist die Suche nach Halt besonders groß. Die einen finden ihn in der Wissenschaft, andere im Glauben und manche suchen die ersehnten Antworten in Verschwörungsmythen.
Den Antisemitismusbeauftragten des Landes Baden-Württemberg, Dr. Michael Blume, wundert das nicht: „Wenn schlimme Dinge passieren, besteht ein Deutungsbedarf. Und für Verschwörungsgläubige ist klar: Hier muss jemand schuld sein. Und dann wird alles Böse auf eine andere Menschengruppe übertragen.“
Blume beobachtet, dass von bestimmten Gruppierungen gerade jetzt in der Corona-Krise verstärkt auch auf uralte, antisemitische Feindbilder zurückgegriffen wird: „Jüdinnen und Juden werden nicht nur abgelehnt, sondern es wird ihnen darüber hinaus vorgeworfen, sie wären an bedrohlichen weltweiten Verschwörungen beteiligt“, so der Religionswissenschaftler.
Und tatsächlich ranken sich um die Rolle der Juden im Zusammenhang mit dem Corona-Virus zahlreiche Mythen. So hieß es zum Beispiel bereits im Januar, jüdische Eliten hätten die Pandemie bewusst hervorgerufen oder – alternativ dazu – die Juden hätten nur das Gerücht eines in Wahrheit gar nicht existierenden Erregers in die Welt gesetzt, um die Menschheit zu kontrollieren.
Und die Nachricht, dass in Israel Wissenschaftler intensiv an einem Impfstoff arbeiten, wird dann nicht als Entkräftung oder Gegenbeweis, sondern vielmehr als Beleg der Schuld interpretiert.
„Die aktuellen Vorwürfe haben in den jüdischen Gemeinden Verwirrung ausgelöst, weil die Leute damit natürlich überhaupt nichts zu tun haben. Die Angst, mal wieder zum Sündenbock für irgendwas gemacht zu werden, ist groß“, so Blume.
Die Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft, Professorin Barbara Traub, beobachtet: „Wir haben in den letzten Wochen in unserer Gemeinde verstärkt anonyme Anrufe mit antisemitischen Beschimpfungen und Provokationen bekommen. Das ist für uns eine neue Dimension.“
Rassistische und antisemitische Inhalte verbreiten sich stark durch das Internet, so bestätigen beide. Vor allem die sozialen Medien würden zur Radikalisierung beitragen und eine breite Masse erreichen - verstärkt in den vergangenen Monaten.
Vor wenigen Wochen weinte der umstrittene Musiker Xavier Naidoo auf YouTube in die Kamera. Der Grund: Ein Netzwerk von Pädophilen würde angeblich Kinder entführen und ermorden, um aus ihnen ein Lebenselixier mit dem Namen „Adrenochrom“ zu gewinnen. Die Corona-Ausgangssperren seien dazu da, die Kinder zu befreien.
Die Vorstellung beruhe auf den Theorien von „QAnon“, einem Unbekannten, der behaupte, sich im engsten Kreise von US-Präsident Donald Trump zu bewegen und geheime Informationen zu einer angeblich weltweiten Verschwörung von Juden und Frauen zu haben, erklärt Blume. Und genau an diese „QAnon“-Bewegung soll sich der rechtsextreme Attentäter von Halle gewandt haben, bevor er seine Tat live ins Netz streamte.
Wer im Netz einen „Schuldigen“ für die Corona-Krise sucht, wird schnell fündig. Im Angebot der Verschwörungsgläubigen stehen da - neben den Juden – auch die Chinesen, Bill Gates, die 5G-Handystrahlung und weitere. Es ist eine krude Mischung aus Fantasien, die von allem etwas enthält: Antisemitismus, Rassismus, Weltverschwörungsglauben.
Die aktuelle Unzufriedenheit und Angst der Menschen in Bezug auf das Virus und die Einschränkungen würden einen guten Nährboden für diese Theorien bieten, die sich sowohl im Digitalen, als auch im Analogen akut verbreiten – wie zum Beispiel bei den Großdemonstrationen der Initiative „Querdenken 711“, die erst jetzt auf dem Stuttgarter Wasen stattfand, beurteilt Michael Blume.
Die Jüdin Barbara Traub erlebt: „Der Antisemitismus war zwar immer da, er wird aber offener und aggressiver.“ Sie selbst hat viele Jahre verschwiegen, welcher Religigion sie angehört: „Meine Eltern haben mir immer gesagt: ‚Wenn du raus gehst, sag nicht, dass du Jüdin bist.‘“ Nach der Pubertät war für sie das Schweigen keine Lösung mehr, auch wenn das offene Bekenntnis zum Judentum oft mit einer erhöhten Vorsicht im Alltag verbunden ist – vor allem nach dem Attentat in Halle.
Auch Michael Blume kennt Beschimpfungen und Drohungen. Als Antisemitismusbeauftragter steht er sogar der Todesliste, auf der unter anderem auch der ermordete Kasseler Politiker Walter Lübcke stand.
Und so beobachten Michael Blume und Barbara Traub die politische Entwicklung im Land schon seit geraumer Zeit mit Sorge.
Denn Blume, selbst Mitglied der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, sieht den Antisemitismus nicht nur als Bedrohung für die Juden, sondern für die gesamte Gesellschaft: „Wenn wir es zulassen, dass Menschen keine Kippa mehr tragen können, dann wird es als nächstes auch nicht mehr möglich sein, ein Kopftuch zu tragen oder ein Kreuz zu tragen oder mit dunkler Hautfarbe unterwegs zu sein.“
Und auch Barbara Traub glaubt, dass es nicht ausreicht, „diese Entwicklung nur zu beobachten“, sondern sie denkt: „Wir müssen dagegen antreten.“
Einen Grund für Antisemitismus, Rassismus und Verschwörungsglauben sehen Michael Blume und Barbara Traub in den Vorurteilen, die jeder von uns habe. Die seien an sich aber nicht das Problem, so der Antisemitismusbeauftragte, sondern vielmehr der Umgang damit und die mangelnde Bereitschaft, einander zu verstehen.
Deswegen setzt Barbara Traub auf Begegnung. Sie wirbt dafür, von Jüdinnen und Juden nicht nur in den Geschichtsbüchern zu lesen, sondern im realen Leben welche kennen zu lernen, wie es zum Beispiel Projekte wie „Meet a Jew“ ermöglichen.
Denn so sei es zu schaffen, glaubt Traub, „dass wir in Frieden miteinander in Europa leben können, und dass wir nicht in alte Verschwörungsmythen verfallen, sondern gemeinsam daran arbeiten, dass diese Gesellschaft zusammenhält und die Vielfalt, wie wir sie in den letzten Jahren gelebt haben, weiter möglich ist.“
Juliane Eva Eberwein