Sexueller Missbrauch macht nicht vor Kirchen Halt. Aber was unternimmt die Kirche, um Menschen zu schützen? Und warum kann ein Verhaltenskodex für Mitarbeitende helfen? Ein Gespräch mit Miriam Günderoth, bei der Landeskirche zuständig für die Prävention gegen sexualisierte Gewalt.
Vor kurzem wurde bekannt, dass die Kriminalpolizei gegen einen ehemaligen Jungscharmitarbeiter einer evangelischen Kirchengemeinde im Landkreis Böblingen wegen Missbrauchsvorwürfen ermittelt. Sexueller Missbrauch macht auch nicht vor kirchlichen Kreisen Halt, weiß Miriam Günderoth, die die Projektstelle Prävention gegen sexualisierte Gewalt innerhalb der Evangelischen Landeskirche in Württemberg innehat. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erklärt die Sozial- und Sexualpädagogin, was ihre Kirche unternimmt, um Menschen vor einem potenziellen Missbrauch zu schützen, und warum ein Verhaltenskodex für Mitarbeitende bei der Prävention gegen sexualisierte Gewalt helfen kann.
Frau Günderoth, seit wann beschäftigt sich die Landeskirche mit sexuellem Missbrauch?
Günderoth: Man kann sagen, dass neben dem Büro für Chancengleichheit, das die Gewalt gegen Frauen und Kinder im Blick hatte, auch die Jugendarbeit, also das Evangelische Jugendwerk und der CVJM die Vorreiter waren. Sie haben bereits 2009 unter dem Titel "Menschenskinder, ihr seid stark" einen Verhaltenskodex verabschiedet, zu dem sich ehrenamtliche Mitarbeitende verpflichten. "Ich achte die Intimsphäre von Teilnehmenden", heißt es dort etwa. Solch eine Verpflichtung muss natürlich konkretisiert und mit Leben gefüllt werden.
Gut, dann nehmen wir doch mal konkret dieses Beispiel: Worauf sollten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei einem Zeltlager in Südfrankreich achten?
Günderoth: Eine Regel sollte sein, sexuelle Kontakte zwischen Teilnehmenden und (Jugend-) Mitarbeitern zu verbieten, selbst wenn beide im ähnlichen Alter sind, weil dies etwas mit der Gruppe macht. Die Zelte sollten zum Schutz nach Geschlechtern getrennt sein, obwohl klar ist, dass damit nicht alle Probleme gelöst sind, da sexuelle Gewalt auch bei gleichem Geschlecht stattfinden kann.
Als Mitarbeitende bin ich nicht im Zelt, wenn sich Teilnehmende umziehen. Und wenn ich mit den Jugendlichen im Zelt übernachte, dann schlafe ich nicht zwischen den Teilnehmenden, sondern am Rand oder Eingang des Zeltes. Vor Ort sollte zudem bei täglichen Mitarbeiterbesprechungen angesprochen werden, wenn etwas nicht so gut läuft.
Doch ist es da nicht schwierig, die Grenzen zu ziehen? Wo fängt aus Ihrer Sicht sexueller Missbrauch an?
Günderoth: Dort, wo das Gegenüber "Nein" denkt. Bei sexualisierter Gewalt geht es um Grenzüberschreitungen und asymmetrische Beziehungen und nicht nur um eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Die Taten beginnen ja nicht plötzlich, sondern Menschen, die pädosexuell sind oder durch diese Form der Gewalt Macht demonstrieren wollen, gehen strategisch vor. Man kann also nicht sagen, da ist jemand reingerutscht. So leicht ist das nicht.
Was sind Hürden, die Täter zuvor abbauen müssen?
Günderoth: Missbrauch ist eine Beziehungstat, sie geschieht meist nicht, bevor eine Beziehung entstanden ist. Es gibt Hemmnisse, die Täterinnen und Täter überwinden müssen, damit sie eine Tat begehen können. Da ist zuerst das eigene Gewissen als inneres Hemmnis. Wir wurden alle so erzogen, dass es verboten und schädlich ist, ein Kind anzurühren.
Auch äußere Hemmnisse müssen von Täterinnen und Tätern überwunden werden. Sie haben keinen sofortigen Zugang zu Kindern, denn Eltern, Freund und andere Betreuerinnen passen auf sie auf. Sie suchen sich im Beruf oder Ehrenamt Möglichkeiten, wo sie merken, dass dort nicht so sehr auf Nähe und Distanz geachtet wird.
Und schließlich müssen sie die Widerstände eines Kindes überwinden. Es steckt viel Arbeit und Strategie dahinter zu schauen, welches Kind besonders bedürftig ist. Dann versuchen sie langsam, Grenzen zu verschieben. Im Alltag kommt es immer wieder vor, dass wir Grenzen überschreiten, dass wir im Spiel aus Versehen jemand berühren, aber das kann auch eine bewusste Strategie sein.
Was kann dagegen getan werden?
Günderoth: Um Kinder vor möglichen Übergriffen und uns vor falschen Verdächtigungen zu schützen, muss die Prävention früher ansetzen. Es ist wichtig, dass im Team genügend Vertrauen da ist, dass man Dinge ehrlich anspricht. Ich muss die Erlaubnis haben, in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen dem Kollegen und der Kollegin sagen zu können: "Ich fand dein Verhalten gerade nicht so gut."
Außerdem ist es wichtig, Kinder ernst zu nehmen, wenn sie von etwas Erlebtem erzählen. In der Regel muss man davon ausgehen, dass sie die Wahrheit sagen und dem nachgehen - auch wenn dann im Team Konflikte entstehen, weil wir als Kollegen selbst mitbetroffen sind.
Was ist, wenn es einen konkreten Verdacht gibt?
Günderoth: Zur Prävention gehört es auch, sich Gedanken zu machen, wie man bei einem Verdacht bei Grenzverletzungen, Übergriffen, oder sexualisierter Gewalt vorgeht. Dafür haben wir in der Landeskirche einen Interventionsplan erarbeitet, der vor Ort angepasst und bearbeitet werden kann. In der Broschüre werden die Ansprechpartner und Beratungsstellen vor Ort eingetragen und es gibt Empfehlungen, wann man welche Maßnahme ergreifen muss und wie man einen Fall dokumentiert.
Oft hat man den Eindruck, dass Kirchen und ihre Einrichtungen besonders betroffen sind von sexuellem Missbrauch - ist das tatsächlich der Fall?
Günderoth: Ich glaube, das Thema betrifft die ganze Gesellschaft. Noch immer spielen sich die meisten Fälle in der Familie ab, aber auch in Schulen, Sportvereinen, im Theater und Ballett gibt es sexuelle Übergriffe. Sobald es Amts- und Würdenträger in der Kirche betrifft, bekommt das emotional und medial mehr Beachtung, weil diese Menschen, die eigentlich Vertrauen, Schutz und Integrität verkörpern sollen, ihre eigenen Werte über Bord werfen und in einer der massivsten Formen, die es gibt, Gewalt ausüben. Und ja, auch in der Kirche findet sexualisierte Gewalt und Missbrauch statt.
Vor kurzem hat die Kirchenleitung einen Verhaltenskodex für Mitarbeitende beschlossen. Er ist Teil des landeskirchlichen Rahmenschutzkonzeptes zur Prävention sexualisierter Gewalt und verschriftlicht die Verantwortung aller. Wir alle haben eine Verantwortung - und Machtpositionen dürfen nicht dazu ausgenutzt werden, Macht zu demonstrieren oder Gewalt auszuüben.
Und nun zum Schluss noch eine persönliche Frage an Sie: Was motiviert Sie, sich intensiv mit diesem Thema auseinanderzusetzen?
Günderoth: Mir ist es wichtig, dass in der verbandlichen Jugendarbeit der Kinderschutz noch mehr in den Blick genommen wird und wir das Thema intensiv in der Landeskirche bearbeiten. Als ich mich während meines Masterstudiums mit den Thema der Schutzkonzepte beschäftigt habe, war es für viele noch kein Thema. Ich denke, dass ich einiges an Wissen habe, das an der Stelle hier wichtig und hilfreich ist.
Haben Sie den Eindruck, dass die Präventionsarbeit bereits fruchtet?
Günderoth: Es ist schwierig, die Wirksamkeit von Prävention zu messen. Erfreulich ist, dass die Fragen nach Beratung und Einschätzung zugenommen haben. Und das hängt bestimmt damit zusammen, dass die Sensibilisierung für dieses Thema gestiegen ist.
(epd)
Referentin für Prävention sexualisierter Gewalt
Rotebühlplatz 10
70173 Stuttgart