6.054 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge, sogenannte UMFs, sind in diesem Jahr bereits nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen leben in Wohngruppen der Jugendhilfe und lernen dort nach Monaten der Flucht wieder einen normalen Alltag kennen. Diplom-Sozialpädagogin Regine Esslinger-Schartmann von der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva) ist für die dezentralen Wohngruppen des Weraheims in Remshalden (Rems-Murr-Kreis) zuständig. Auch dort sind Flüchtlingskinder untergebracht. Ute Dilg hat anlässlich des Weltkindertags am 20. September mit ihr über deren Situation gesprochen.
Frau Esslinger-Schartmann, Sie leiten eine Wohngruppe mit sogenannten UMFs. Was sind das für Kinder und Jugendliche?
Sie kommen aus aller Herren Länder, wo Krieg ist und Not herrscht. Vor allem aus Syrien, Afghanistan und einigen afrikanische Staaten. Aber auch vom Balkan. In der Regel sind sie zwischen 14 und 18 Jahre alt. Derzeit nehmen wir nur Jungs auf, aus dem einfachen Grund, weil kaum unbegleitete Mädchen nach Deutschland kommen.
Welche Erfahrungen haben die Jugendlichen gemacht?
Wir hören schon schreckliche Geschichten. Viele sind traumatisiert, zum Beispiel weil sie in die Hände von Taliban geraten sind und für Selbstmordattentate ausgebildet werden sollten. Andere haben ihre Eltern im Krieg verloren oder sind auf der Flucht von ihnen getrennt worden. Das merkt man den Jugendlichen an. Sie sind oft still und zurückgezogen, haben Angst und sind misstrauisch. Andererseits sind sie auch sehr engagiert. Sie wollen alle schnell Deutsch lernen. Und im Vergleich zu unserer typischen Jugendhilfe-Klientel sind sie sehr höflich und zeigen viel Respekt vor älteren Leuten.
Wie gehen Sie mit traumatisierten Jugendlichen um?
Alle unsere Mitarbeiter haben eine intensive Einführung in die Traumapädagogik bekommen. Ich selbst bin zudem interkulturelle Trainerin und Beraterin. Bei der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart gibt es außerdem einen Fachdienst, den wir hinzuziehen können. Leider sind die Wartezeiten bei ausgebildeten Traumtherapeuten momentan sehr lang. Um diese Zeit zu überbrücken, bieten wir selbst Gespräche an. Und wir versuchen im Alltag eine sichere Atmosphäre für die Jugendlichen zu schaffen. Das ist ganz wichtig.
Wie sieht der Alltag in einer Wohngruppe aus?
Eine gute Tagesstruktur ist das A und O. Dann langweilen sich die Jugendlichen nicht und hängen ihren Erinnerungen nach. Mittlerweile haben alle jungen Flüchtlinge bei uns einen Schulplatz in einer speziellen Vorbereitungsklasse bekommen. Dort sind sie vormittags und lernen vor allem Deutsch. Nach dem Mittagessen bieten wir verschiedene Aktivitäten an. Wir haben zum Beispiel einen Garten am Haus, in dem sie werkeln können. Es gibt musikalische oder handwerkliche Angebote. Einige haben wir in Sportvereine vermittelt. Die Jungs spielen in der Regel alle gerne Fußball. So haben sie auch Kontakte außerhalb ihrer Wohngruppe und kommen auf andere Gedanken. Jeder Jugendliche hat außerdem einen Bezugsbetreuer. Insgesamt haben wir sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer Wohngruppe. Die sind zwar nicht alle gleichzeitig da, trotzdem können wir so eine intensive Betreuung gewährleisten.
Welche Probleme gibt es, welche Erfolge sehen Sie aber auch in der Entwicklung der Jugendlichen?
Die Jugendlichen tun sich anfangs oft schwer mit Regeln. Sie haben sich ja auf der Flucht oft monatelang selbst versorgen müssen und sind deshalb sehr selbständig. Da müssen sie einen Schritt zurück machen. Manche haben auch Schwierigkeiten mit dem weiblichen Geschlecht. Sie haben andere Rollenbilder im Kopf und müssen erst lernen, dass Frauen und Mädchen hier gleichberechtig sind. Da kann es schon mal krachen. Aber da müssen sie durch. Generell sind die Jungs sehr ehrgeizig. Sie wollen nicht rumsitzen und chillen, sondern etwas lernen, etwas erreichen im Leben.
Welche Zukunft haben jugendliche Flüchtlinge derzeit in Deutschland?
Das ist schwer zu sagen, weil sich die Regelungen dauernd ändern. Erst einmal haben sie keine Sicherheit. Sie dürfen im ersten Vierteljahr nicht einmal den Landkreis verlassen. Wichtig ist, dass sie sich nichts zuschulden kommen lassen, nicht einmal Schwarzfahren. Wenn es ihnen gelingt, einen Schulabschluss zu machen und einen Lehrbetrieb zu finden, dann schätze ich ihre Chancen ganz gut ein. Aber vor allem hängt ihre Zukunft ab von einem gelingenden Asylverfahren und einem sicheren Aufenthaltsstatus.
Frau Esslinger-Schartmann, vielen Dank für das Gespräch!