Aus Syrien kommen derzeit fast immer schlechte Nachrichten. Hilfsorganisationen berichten, dass sie im Land kaum arbeiten können. Dr. Uwe Gräbe, Verbindungsreferent Nahost bei der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS), ist vor einigen Tagen vom Projektbesuch in Syrien zurückgekehrt. Ute Dilg hat mit ihm über das Projekt und seine Eindrücke gesprochen.
Herr Gräbe, was haben Sie in Syrien gemacht?
Wir sind vom Libanon aus in das „Tal der Christen“ gefahren. Das liegt auf syrischem Gebiet. Wir haben dort eine Vorschule mit Kindergarten und Krippe besucht, die die Evangelische Mission in Solidarität (EMS) Anfang des Jahres mit einem lokalen kirchlichen Partner gegründet hat.
Viele Hilfsorganisationen haben derzeit große Schwierigkeiten, in Syrien direkt zu arbeiten. Wie schafft die EMS es, dort ein Projekt zu unterhalten?
Zum einen ist es ein kleines Projekt. Die Schule war ursprünglich für 30 Kinder ausgelegt, mittlerweile sind es 46 Kinder. Aber es ist immer noch klein genug, um unauffällig zu sein. Zum anderen ist es in der örtlichen Kirche verankert. Die Initiative ging von einem einheimischen Pfarrer und seiner Frau aus, und die Kirche hat es sich zu Eigen gemacht. Wir finanzieren das Projekt mit Mitteln unserer Mitgliedskirchen, auch der württembergischen Landeskirche. Und natürlich mit Spendengeldern. Für diese Unterstützung sind wir sehr dankbar. Wenn man Freunde und Partner weltweit hat, ist es auch in so einer kritischen Region möglich, etwas zu tun.
Wie muss man sich den Schul- und Kindergartenbetrieb vorstellen?
In die Vorschule gehen vor allem Flüchtlingskinder aus sehr armen Familien. Ihre Mütter würden es nicht schaffen, ihnen eine warme Mahlzeit am Tag zu verschaffen. Die Kinder werden morgens mit zwei Schulbussen aus den Dörfern im „Tal der Christen“ abgeholt und zur Schule gebracht. Die Kinder spielen viel, basteln oder bauen Sachen, wie das auch bei uns im Kindergarten der Fall wäre. Die Größeren lernen auch schon etwas Englisch. Außerdem bekommen sie ein zweites Frühstück, ein warmes Mittagessen und nachmittags noch einen kleinen Imbiss. Am späteren Nachmittag kommen dann die Busse und bringen die Kinder wieder in ihre Dörfer.
In Syrien herrscht Bürgerkrieg. Mit welchen Schwierigkeiten haben die Menschen und auch das Projekt im „Tal der Christen“ zu kämpfen?
Das Leben der Menschen ist vom Krieg geprägt. Das „Tal der Christen“ wird von Regierungstruppen kontrolliert. Um überhaupt dorthin zu kommen, muss man viele Wachposten passieren. Vor dem Krieg haben in der Gegend etwa 100.000 Menschen gelebt. Inzwischen hat sich die Bevölkerung durch die Flüchtlinge vervierfacht. Viele Kinder, die in die Vorschule kommen, haben ihre Väter verloren. Sie sind traumatisiert, habe Albträume, wachen nachts schreiend auf. Das sind die Rahmenbedingungen, mit denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Projekt umgehen müssen.
Es ist ja eine christliche Vorschule. Werden auch muslimische Kinder aufgenommen?
Man hat darauf geachtet, dass sowohl christliche als auch muslimische Kinder zur Schule gehen können. Wobei die muslimischen Kinder nicht nur Alawiten sind, sondern zur Hälfte auch Sunniten. Im Alltag spielt die Religionszugehörigkeit allerdings kaum eine Rolle. Die Kinder nehmen das auch nicht so wahr. Sie sehen das andere Kind und nicht die Religion. Aber es ist in der Tat eine christliche Schule. Und das wissen auch die muslimischen Eltern. Im Foyer steht derzeit ein Christbaum, und die Kinder singen Weihnachtslieder. Aber es wird nicht missioniert. Jeder wird als Mensch und als Kind gesehen, das ganz furchtbare Erfahrungen gemacht hat und Unterstützung braucht.
Wie ist die Sicherheitslage im „Tal der Christen“ derzeit?
Die Menschen im „Tal der Christen“ sind meiner Einschätzung nach relativ sicher. Bislang hat es dort keine Kampfhandlungen gegeben. Es sieht auch nicht so aus, als würden die islamistischen Kräfte es schaffen, dort einzumarschieren. Man merkt allerdings die Auswirkungen dieses Krieges überall. Die Not ist sehr groß. Den Christen geht es dort aber vergleichsweise gut. Ihnen wird kein Schaden zugefügt, sofern sie sich nicht politisch engagieren.
Wie schätzen Sie die Zukunft des Landes ein? Man liest ja immer wieder, dass Syrien in vier Teile zerbrechen werde – in einen alawitischen, einen sunnitischen, einen schiitischen und einen kurdischen Teil.
Das ist eine weit verbreitete Analyse. Allerdings habe ich in letzter Zeit bei Konferenzen immer wieder Vertreter der syrischen Zivilgesellschaft kennengelernt, die diesen Gedanken einer Teilung gar nicht erst aufkommen lassen möchten. Die säkularen Kräfte wollen nach dem Krieg einen Staat schaffen, in denen der religiöse und ethnische Hintergrund keine Rolle spielt. Sie sehen die Gefahr, dass nach einer Teilung vier gescheiterte Staaten übrigbleiben. Denn welche Ressourcen hätten diese vier Teilstaaten? Ich bin da hin- und hergerissen. Zum einen spricht vieles für einen Zerfall des Staates. Zum anderen möchte ich gerne die Stimmen aus der syrischen Zivilgesellschaft ernst nehmen, die an einem gemeinsamen Staat arbeiten wollen.
Vielen Dank für das Gespräch!